"Der Weg zur Emanzipation führt über die Frauen"
Nahostexpertin Tyma Kraitt floh vor 26 Jahren aus dem Irak nach Österreich. Aus eigener Erfahrung weiß sie, was es für eine gelungene Integration braucht – und wie man die Männer dazu bringt, ein westlicheres Frauenbild zu bekommen.
Ihre Mutter ist sunnitische Irakerin, ihr Vater christlicher Syrer, Sie haben eine österreichische Staatsbürgerschaft. Als was fühlen Sie sich?
Das kommt darauf an, mit wem ich es zu tun habe – im Ausland fühle ich mich sehr als Österreicherin, in Österreich eher als Araberin.
Sie sind als Fünfjährige mit Ihrer Familie nach Europa geflüchtet. Was waren die prägendsten Erinnerungen?
Meine Eltern haben versucht, es so darzustellen, als würden wir Urlaub machen. Von den politischen Umständen wussten wir als Kinder nichts, ebensowenig war uns klar, dass wir nicht mehr in den Irak zurückgehen würden. Meine Eltern waren privilegiert: Mein Vater war Ingenieur, meine Mutter hat als Forschungsassistentin im Industrieministerium im Irak gearbeitet. Eigentlich wollten wir nach Schweden, dann sind wir aber in Traiskirchen gelandet.
Was hat Ihnen und Ihrer Familie bei der Integration geholfen?
Wir haben sehr bald Anschluss über die Pfarre gefunden, wo meine Mutter in der Küche gearbeitet hat. Ich bin in Schwechat sehr multikulturell aufgewachsen.
Gibt es Dinge, die Sie an der aktuellen Flüchtlingspolitik ärgern?
Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Da kommen zirka 900.000 syrische Flüchtlinge nach Europa und wir tun so, als hätten wir eine unlösbare Krise. Wenn ich mir Länder wie den Libanon anschaue oder die Türkei – das ist eine Krise. Was wir hier haben, wäre bewältigbar, aus innenpolitischem Kalkül will man das aber offensichtlich nicht.
Wenn Sie Innenministerin wären, was würden Sie als Erstes tun?
Das Wichtigste sind flächendeckende Deutschkurse. Das andere ist soziale Absicherung. Und die Integration in den Arbeitsmarkt muss sein, wenn wir nicht ewig für den Lebensunterhalt der Menschen bezahlen wollen. Zurzeit sind die Hürden sehr groß, das betrifft auch Akademiker.
Es heißt immer, es kommen hauptsächlich junge Männer. Weltweit sind rund zwei Drittel der Flüchtlinge Frauen und Kinder. Ist erklärbar, warum sich das im Flüchtlingsstrom nach Europa nicht widerspiegelt?
Die Frauen unter den syrischen Flüchtlingen bleiben oft in Flüchtlingslagern in den umliegenden Ländern, etwa in Zaatari in Jordanien. Es kommen deswegen in erster Linie Männer, weil es keine legale Einreisemöglichkeiten gibt und der Weg an sich sehr gefährlich ist: Frauen werden Missbrauch und Gewalt jeglicher Art ausgesetzt. Dazu kommt, dass viele Frauen in diesen Ländern nicht schwimmen können – der Weg über das Mittelmeer wäre sehr riskant. Junge Männer sind am ehesten dafür gewappnet, diese Reise zu überleben.
Der Familiennachzug wurde deutlich erschwert. Welche Konsequenzen hat das hinsichtlich der Integration jener, die schon hier sind?
Wenn es uns ein Anliegen ist, dass sich diese Menschen hier integrieren, dann muss es uns auch ein Anliegen sein, dass wir ihre Familien nachholen. Das sind Menschen, die kriegstraumatisiert sind, panisch Angst um ihre Frauen und Kinder haben – so kann man kein halbwegs normales Leben beginnen. Syrien ist seit 2011 im Krieg, aber im Irak und in Afghanistan kennt man mittlerweile seit drei Jahrzehnten nichts anderes mehr. Wir haben es hier zum Teil mit einer verlorenen Generation zu tun, teils auch mit sehr brutalisierten Menschen – wenn wir uns darum nicht kümmern, wird uns das große Probleme bereiten.
Frauen in Afghanistan ist es verboten, in die Schule zu gehen, viele sind Analphabetinnen. Wie soll man hier damit umgehen?
Die Töchter müssen hier zur Schule gehen – keine Frage, da muss man kompromisslos sein und im schlimmsten Fall auch sanktionieren. Die Kürzung der Mindestsicherung ist ein wirksames Druckmittel.
Viele der Frauen sind in sehr patriarchalen Systemen groß geworden. Wie können sie sich emanzipieren – und umgekehrt: Wie schafft man es, dass die arabischen Männer ein westliches Frauenbild akzeptieren und leben?
Ich glaube, dass man ein bisschen differenzieren muss. In Syrien etwa gibt es ein starkes Stadt-Land-Gefälle, die Frauen, die aus den Städten kommen, sind um einiges gebildeter und moderner. Ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass gerade Syrerinnen schnell das Kopftuch ablegen. Sie haben es zum Schutz während des Krieges in Syrien getragen, dann auf der Flucht, und jetzt haben sie das Gefühl, dass es sie eher hindert. Der Weg zur Emanzipation führt über die Frauen selbst: Indem sie etwa Ausbildungsmöglichkeiten haben, vielleicht einen Job finden und dadurch ökonomisch unabhängiger werden. Die Männer ihrerseits sollte man in die Gesellschaft einbinden. In dem Moment, wo sie sich abschotten, reproduzieren sie ihre Frauenbilder.
Was halten Sie von Wertekursen? Wertekurse sind schön und gut, aber sie sind der oberflächlichste Weg. Kurse kann man absitzen. Eine ehrliche Auseinandersetzung mit den Menschen ist sicher anstrengender, weil zeitintensiv, aber sinnvoller.
Text: Anna Thalhammer