Im Interview spricht Dr. Dereje Wordofa, Präsident der SOS-Kinderdörfer, über die Herausforderungen der Arbeit einer Hilfsorganisation im Kontext von Konflikten und Krieg.
Herr Wordofa, wie sieht Hilfe für Kinder in Kriegs- und Konfliktgebieten aus?
Unsere oberste Priorität ist immer der Schutz und die Unterstützung der Kinder. Insbesondere derer, die keine elterliche Fürsorge haben oder Gefahr laufen, diese zu verlieren. Kriege bringen Kinder, vor allem solche ohne angemessene elterliche Fürsorge, in eine äußerst gefährliche Lage.
Überall, wo wir tätig sind, müssen wir mit Gemeinden und lokalen Behörden zusammenarbeiten. Im Kontext von Kriegen und Konflikten kann dies zu einer Herausforderung werden, da wir in der Regel mit Regierungen oder Gruppen auf gegnerischen Seiten zusammenarbeiten müssen. Wir befolgen dabei die humanitären Grundsätze der Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und Neutralität. Unsere Interventionen sind kein politischer Akt und sollten auch nicht als solcher betrachtet werden. Wir stehen auf der Seite der Kinder!
Was bedeutet das in einem Konflikt, "auf der Seite der Kinder" zu stehen?
In Zeiten von Kriegen und bewaffneten Konflikten wird von den Menschen erwartet, dass sie Partei ergreifen. Manche glauben, dass auch wir als Hilfsorganisation Partei ergreifen sollten, aber wir beziehen keine politische Position. Es kann vorkommen, dass die SOS-Kinderdörfer lebensrettende Hilfe in einer von der Regierung kontrollierten Region leisten und gleichzeitig in Gebieten, die von einer Konfliktpartei kontrolliert werden. Für die Sicherheit der Kinder und der Mitarbeiter - und die weitere Durchführung unserer Programme - müssen wir mit allen Seiten den Kontakt halten, unabhängig davon, ob wir mit ihrer politischen Einstellung einverstanden sind oder nicht.
Es ist unbestreitbar, dass Kinder unschuldige Opfer von Kriegen jeglicher Art sind. Wir treten für sie ein ungeachtet ihrer Identität und oftmals unter extrem schwierigen Bedingungen. Wir sind in mehr als 130 Ländern vertreten, von denen einige eine Geschichte von Krieg, politischen Umwälzungen und sozialen Unruhen haben. In manchen dieser Länder sind wir schon seit Jahrzehnten präsent, ungeachtet von Regierungswechseln, politischen Spannungen oder gewaltsamen Konflikten. Wir sind bekannt für unsere Unparteilichkeit und für unser bedingungsloses Eintreten für die Kinder. Dadurch ist es uns möglich, über viele Jahre in den Gemeinden zu arbeiten und langfristige Hilfe zu leisten.
Können Sie ein Beispiel für Ihre Arbeit in Konfliktregionen nennen?
Ich erinnere mich an eine besondere Geschichte in der Ukraine, wo ein 10-jähriges Mädchen und ihr 9-jähriger Bruder zu Waisen wurden, nachdem ihr Vater bei einem Artillerieangriff auf ihr Haus getötet worden war. Ihre Mutter war bereits Jahre zuvor gestorben. Da sie keine Verwandten hatten, die sich um sie kümmern konnten, alarmierten die Behörden die SOS-Kinderdörfer, die sie bei einer erfahrenen Pflegefamilie unterbringen konnten, die aus dem Heimatdorf der Kinder in der Ostukraine stammte. Sie sind jetzt in der Westukraine in Sicherheit und werden von Erwachsenen betreut, denen sie vertrauen können. Ich bin sicher, dass es in Russland ähnliche Geschichten von Kindern gibt, die die elterliche Fürsorge verloren haben - vielleicht sogar durch den Krieg - und die nun betreut werden, damit auch sie sich entwickeln können.