Das Magazin von SOS-Kinderdorf

Festsitzen im Dazwischen

Seit Kriegsausbruch mussten unzählige ukrainische Familien ihr Land verlassen. Die meisten von ihnen sind noch in Österreich, obwohl sie sich nichts mehr wünschen, als nach Hause zurückzukehren. Entsprechend schwer fällt es ihnen, sich einzuleben. Das Leben ist ein Spagat zwischen den Kulturen. Das Familiencafé von SOS-Kinderdorf bietet den Familien Unterstützung und einen geschützten Raum in einem Land, in dem so vieles fremd ist.

Reportage: Theresia Verweyen
Fotos: Sandra Kosel

 

Im Familien-Café können sich Mütter austauschen, während es für die Kinder ein Betreuuungsprogramm gibt.

Es ist eine etwas unscheinbare, dunkle Türe, die sich in der Zentagasse in Wien jeden Dienstag und Donnerstagnachmittag von 14:30 bis 17:00 Uhr für geflüchtete Familien aus der Ukraine öffnet. Lediglich eine kleine Tafel mit der Aufschrift „Ukrainisches Familiencafé – Herzlich willkommen!“, gibt einen Hinweis. Hinter der Tür ist es jedoch alles andere als dunkel und unscheinbar. Ein heller, farbenfroher Raum mit Bücherregalen und Girlanden, in der Mitte eine große, weiße Tafel. Es gibt einen Tischfußballtisch, eine beeindruckende Auswahl an Spielsachen liegt ordentlich sortiert in einer Ecke. „Das wird sich bald ändern“, lacht Annika, Projektleiterin des SOS-Kinderdorf Familiencafés. Denn es ist Donnerstag, kurz nach 14:00 Uhr, in Kürze öffnet das Familiencafé. Annika führt uns in den angrenzenden Raum mit Küchenzeile, Couch und ein paar Sessel. „Hier können sich die Mütter bei einem Kaffee austauschen und mit uns ihre Anliegen besprechen, während nebenan die Kinder ihr Betreuungsprogramm haben“, erklärt Sophie, eine der beiden ukrainischen Betreuerinnen, die regelmäßig im Familiencafé arbeiten.

Die Beratung der Mütter richtet sich nach deren individuellen Fragen – etwa zum Wohnen, dem österreichischen Schulsystem, medizinischer Versorgung, Grundversorgung und Familienbeihilfe, Freizeitprogramm mit Kindern, Hilfe bei Anträgen oder Terminbuchungen. Die meist alleinerziehenden Mütter können im Familiencafé ihre Erfahrungen teilen – und vor allem auch soziale Kontakte knüpfen. Gerade letztere sind von enormer Bedeutung, denn viele der Mütter fühlen sich allein mit den unzähligen Herausforderungen.

Annika Maier ist Projektleiterin des Familien-Café von SOS-Kinderdorf.

Leben zwischen zwei Kulturen

„Am Anfang war es für uns sehr schwer. Aufgrund der Sprachbarriere konnte meine Tochter im Kindergarten kaum Kontakte knüpfen“, erzählt Mutter Iryna. „Wir sind sehr dankbar für die Hilfe, die wir hier bekommen haben. Wir möchten aber natürlich wieder zurück. Jeden Monat plane ich aufs Neue, zurückzufahren“, führt Iryna fort. Damit sie nicht allein: „Fast alle der Familien hier möchten wieder zurück nachhause“, sagt Sophie.

Sich längerfristig ein Leben in Österreich aufzubauen, Kontakte knüpfen, die Sprache lernen – die Motivation dafür ist naturgemäß weniger groß, wenn die Familien immer auf dem Sprung sind. Wenn sie bereit sind, ihre Koffer zu packen und zurückzukehren, sobald es möglich ist. Nur leider weiß niemand, wann das sein kann. „Ich habe das Gefühl, die Familien empfinden es fast als Verrat an der Ukraine, sich hier voll und ganz auf das Leben einzulassen. Eventuell spielen Schuldgefühle eine Rolle. Also dass man sich hier ein gutes Leben in Sicherheit aufbauen kann, während Teile der Familie in der Ukraine zurückgeblieben sind“, so Annika.

Auf die Frage, wo sie sich in fünf Jahren sieht, antwortet Natalia, die Großmutter eines 9-jährigen Jungens schmunzelnd: „Hätte man mir vor zwei Jahren gesagt, dass ich mal in Wien leben würde, hätte ich das niemals für möglich gehalten. Also, wer weiß das schon. Ich fühle mich hier in Österreich akzeptiert, aber noch nicht wirklich integriert. Auch von mir innen heraus“, ergänzt sie.

Mutter Iryna empfindet es als Bereicherung, dass ihre Tochter eine neue Kultur kennenlernt. So kann sie viele neue Dinge lernen und gleichzeitig die eigene Kultur und ukrainische Traditionen bewahren. Großmutter Natalia hingegen macht sich ein wenig Sorgen: „Ich glaube, wenn ein Kind mehrere Sprachen spricht, verliert es auf Dauer die notwendige Sprachkompetenz in der eigenen Sprache.“

Während unseres Besuchs bemalten die Kinder Gläser mit Motiven von Harry Potter bis Cristiano Ronaldo.

Herausforderung Schulalltag

Diese Zerrissenheit setzt sich auch im Schulalltag der Kinder fort. Bis vor wenigen Monaten haben die ukrainischen Kinder neben dem Besuch einer österreichischen Schule (meist in Integrationsklassen), nachmittags auch noch am Online-Unterricht ihrer ukrainischen Schule teilgenommen, um ihren Schulplatz nicht zu verlieren. „Als wäre es nicht schon schwer genug den Schultag in einem fremden Land und in einer fremden Sprache zu meistern, hatten die Kinder noch diese zusätzliche Belastung“, so Annika. Den Eltern fehlen oft die Sprachkenntnisse und das Verständnis der österreichischen Bildungslandschaft, um sie dabei gut zu unterstützen. „Ich habe in der Schule hier kaum Freunde und mit Deutsch tue ich mir auch noch etwas schwer. Aber es wird langsam besser“, erzählt die 9-Jährige Paulina. „Es gefällt mir hier in Wien schon, aber ich vermisse mein zuhause sehr“, ergänzt die ebenfalls 9-Jährige Maria.

Viele der Kinder vermissen ihre Heimat - auch Paulina und Maria. Im Familien-Café haben sie einen Wohlfühlort gefunden.

Wohlfühl-Wohnzimmer

Während unserer Gespräche ist das heutige Kreativprogramm ist schon voll im Gange: Der große Tisch ist voll mit buntbemalten Gläsern –  die kleinen Kunstwerke zeigen Harry Potter, Baby Yoda, Kürbisse oder ein detailgetreues Rolando Trikot. Überall liegen Pinsel und alle Farben, die die Farbpalette zu bieten hat. Auch ein paar der Mütter haben sich jetzt zu den Kindern gesellt und helfen. Als es 17 Uhr wird, brechen die Familien nach und nach auf. Was an dem Nachmittag im Familiencafé auffällt: Die Kinder bewegen sich in den Räumlichkeiten ganz natürlich, sie wissen, wo sich was befindet, kennen sich aus, müssen selten nachfragen. Auch nebenan bei den Müttern ist dieselbe Stimmung. Man kriegt den Eindruck: Die Familien haben sich hier einen Wohlfühlort geschaffen. Einen Ort, an dem sie sich zumindest für ein paar Stunden angekommen fühlen können. Denn wirklich ankommen können viele von ihnen in Österreich nicht, dafür ist die Sehnsucht nach der Heimat zu groß.

Jedes Kind ist gleich viel wert

Seit Juni 2022 bietet SOS-Kinderdorf im Familiencafé in der Wiener Zentagasse geflüchteten Familien aus der Ukraine einen sicheren Wohlfühlort zum Durchschnaufen, Spielen und Austausch. Während die Kinder spielerisch Deutsch lernen, Hausaufgaben machen, Malen und Basteln, gehen die Betreuerinnen in einem gemütlichen Rahmen individuell auf die Fragen und Themen der Mütter ein.

Seit März 2023 besucht das mobile Familiencafe sechs Grundversorgungsquartiere, um und in Wien. Das mobile Familiencafe ist ein kleiner Van, der vollgepackt mit Outdoorspielsachen, Bällen, Kartenspielen, Bastelmaterialien, Reifen etc. und Betreuer*innen, regelmäßig etwas Ablenkung in den Alltag der geflüchteten Familien, unabhängig von ihrem Herkunftsland, bringt. Diese Initiative ist auf der Suche nach Freiwilligen, die sich gerne regelmäßig engagieren möchten.

In ganz Österreich betreut SOS-Kinderdorf rund 250 geflüchtete Kinder und junge Menschen in unterschiedlichen Betreuungsformen, etwa in WGs speziell für junge Geflüchtete, in Wohngruppen im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe, in selbstständigen Wohnungen oder innerhalb von Gastfamilien. Hinzu kommen Angebote wie eben die Familiencafes für ukrainische Geflüchtete, das Bildungsprojekt Minerva in Salzburg oder die SOS-Kinder.Welt.Innsbruck. Das langjährige Leuchtturmprojekt Clearinghouse in Salzburg startete 2023 mit einem neuen Konzept.

Darüber hinaus setzt sich SOS-Kinderdorf seit vielen Jahren auch für die Gleichbehandlung aller Kinder und Jugendlichen in Österreich ein. Für Kinder ist das Erleben von Krieg und Flucht besonders traumatisierend und belastend. Deshalb brauchen sie besonderen Schutz und Fürsorge. Es ist ihr Recht und eine gesellschaftliche Pflicht, dass sie kindgerechte Hilfe und Unterstützung bekommen, ganz egal, wo sie geboren wurden.

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