Wie beeinflusst Wohlstand in der Familie die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen?
Bildung wird vererbt. Eltern, die Geld haben, werden in unserem Schulsystem vorausgesetzt. Wir verlassen uns darauf, dass es zuhause Geld für Nachhilfe und kulturelle Aktivitäten gibt. Ich mache den Lehrer*innen keinen Vorwurf, sie haben begrenzte Kapazitäten, aber schon unserem Bildungssystem: So wird Ungleichheit zementiert. Wenn du wohlhabend bist, stehen dir alle Türen offen. Wenn du arm bist, dann ist alles beschlossen. Du verlässt oft nicht mal deinen eigenen Bezirk. Du kannst nicht groß träumen, das lernst du gar nicht. In Österreich wird oft gesagt: „Wenn du dich anstrengst, dann schaffst du es, du musst kämpfen.“ Damit wird versucht, es als individuelles Schicksal darzustellen, aber so einfach ist es nicht. Wenn wir diese individuellen Schicksale hinnehmen und diese Aufsteigergeschichten erzählen, dann können wir rechtfertigen, nichts am System zu ändern. Aber de facto ist es so: Wenn du Geld hast, dann steht dir alles offen. Wenn du reich bist, wirst du immer reicher an Chancen, Geld, kulturellem Kapital.
Welche Rolle spielt Scham im Zusammenhang mit Armut?
Wenn Menschen es aus der Armut schaffen – und das tut nur ein ganz kleiner Prozentsatz –, dann sehen sie plötzlich andere Welten, in denen sie sich ständig fehl am Platz fühlen, gehen schambehaftet durch diese Welten. Als junger Mensch merkst du oft erst rückblickend, wie sehr du etwas aus Scham getan hast, wenn zum Beispiel ein Kind mit Wut auf die Eltern reagiert, weil sie ihm keinen Markenrucksack gekauft haben. Deswegen fühlt sich aufsteigen auch immer ein bisschen wie Verrat an der eigenen Familie an. Du kommst nicht wirklich da an, wo du angeblich hinsolltest, aber bist auch nicht mehr das, was deine Eltern sind.
In Ihrem Buch „Generation Haram“ bezeichnen Sie vor allem muslimische Burschen als Verlierer des Bildungssystems. Welche Auswirkungen hat Rassismus beim Lehrpersonal?
Viele Lehrer*innen haben gegenüber muslimischen Burschen Stereotype, die bestätigt werden: Zum Beispiel der Ali, der in der Stunde nicht aufpasst, so wild ist und Mädchen unterdrückt. Bei Erich, der sich genauso verhält, wird eher eingewandt, dass er eine schwere Zeit durchmacht, weil seine Eltern sich scheiden lassen oder Ähnliches. Erich sieht man als Individuum, Ali als Kollektiv aller muslimischen Jungs. Es wird ein Teufelskreis, jeder bestätigt die Vorurteile des anderen. Und irgendwann werden muslimische Burschen, vereinfacht gesagt, an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Zum Beispiel suchen sie dann Anerkennung in Predigern oder muslimischen TikTokern. Sie sehen: „Da kann ich gut sein, wenn ich schon nicht in der Schule gut bin. Ich kann ein guter Muslim sein“ – obwohl sie eigentlich Dinge tun, die nichts mit dem Islam zu tun haben. Es ist das vorgezeichnete Schicksal und sie malen die Schablonen, die man von ihnen hat, einfach nur aus. Es ist als muslimischer Bursche wirklich schwer, es da rauszuschaffen, weil alles eigentlich gegen dich spricht.
Noura Maan arbeitet bei der Tageszeitung „Der Standard“ als Chefin vom Dienst und im Ressort Außenpolitik.