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„So wird Ungleichheit zementiert“

Bildung wird vererbt. Davon sind zahlreiche Bildungsexpert*innen, auch Melisa Erkurt, überzeugt. Die Journalistin und ehemalige Lehrerin schüttelt den Kopf darüber, dass Menschen in einem reichen Land wie Österreich Angst haben, sich die nötigsten Schulsachen für ihre Kinder nicht leisten zu können. Im Interview spricht die Autorin von „Generation Haram“ (Zsolnay, 2020) über die Vorteile einer Ganztagsschule, Reformen in der Lehrer*innenausbildung und warum arme Kinder gar nicht lernen, zu träumen.

Interview: Noura Maan
 

 

Frau Erkurt, angesichts der derzeit massiven Teue­rung müssen armutsbetroffene Eltern auch bei Bildungsausgaben für ihre Kinder sparen. Was bedeutet so eine Situation für die Familien?
Es war schon vor der Teuerung für viele unleistbar, jetzt hat jede zehnte Familie schon Angst, sich das Nötigste nicht mehr leisten zu können. Viele Kommentare dazu waren zynisch, dass es ja nicht so schlimm sei, auf Ausflüge zu verzichten. Aber wenn man bei die­sen Freizeitaktivitäten nicht mitmacht, dieses kulturelle Kapital nicht be­kommt, schließt das Armutsbetroffene noch mehr aus. Gerade diese Kinder brauchen all diese anderen Dinge, um irgendwie selber einen Aufstieg schaf­fen und aus diesem Kreis rauskommen zu können.

Passiert in Österreich zu wenig, um hier gegenzusteuern?
In so einem reichen Land wie Öster­reich ist der aktuelle Zustand eigentlich beschämend. Wenn private Vereine Schulsachen spenden oder organisie­ren, ist das zivilgesellschaftlich toll. Aber man muss schon den Kopf schüt­teln, dass das nötig ist. Andere Länder, etwa in Skandinavien, haben ganz selbstverständlich vom Staat bereitge­stellte Schulsachen, wie Stifte und Hefte, niemand muss extra etwas ausgeben.

Was würde Armutsbetroffenen neben vom Staat finanzierten Schulsachen noch helfen?
Es gibt zum Beispiel auch Schulstart­pakete, aber das reicht nicht. Wir wissen, was eigentlich die Lösung wäre, damit das nicht jedes Jahr dis­kutiert werden muss: eine kostenlose Ganztagsschule. Dort wird alles bereit­gestellt, auch Sozialarbeiter*innen oder Ärzt*innen, die zur schulischen Ausstattung gehören wie Lehrer*in­nen. In der Ganztagsschule muss es auch Freizeitmöglichkeiten geben, die Kinder aus der Mittel- und Oberschicht ohnehin bekommen: Klavierstunden, Fußball, Computerspiele – und auch Nachhilfe. Vor allem Letzteres sollte ganz klar in der Schule stattfinden – denn was passiert jetzt mit jenen, die sich das nicht leisten können? Sie werden langsam aussortiert.

Nur 37 Prozent der Arbeiter*innenkinder machen Matura im Vergleich zu 81 Prozent der Akademiker*innenkinder. Würde die Ganztagsschule diese Kluft verringern?
Es wäre keine Lösung für das gesellschaftliche Problem Armut, aber es würde dazu führen, dass mehr Arbeiter*innenkinder maturieren oder studieren. Damit die Ganztagsschule gut an Kinder aus unteren sozialen Schichten angepasst ist, müssen die Menschen, die Bildungspolitik machen und Ganztagsschulen designen, diversere Hintergründe haben und nicht nur ihre Kinder oder ihre zukünftigen Enkelkinder im Kopf haben. Die Lehrer*innenausbildung, die Ausbildenden an den Universitäten und PHs müssten ganz anders sein. Das ist hierzulande unglaublich schwierig, in Österreich ist das ein Eingriff in die kulturelle Identität.

Was müsste sich konkret bei der Ausbildung von Lehrer*innen ändern?
Sie müsste viel lebensnaher sein, angepasst an die Klientel, die man unterrichtet, und nicht an einen selbst. Wer wird Lehrer*in? Die, die gerne in die Schule gegangen sind, weil die Schule gut für sie gemacht war, meistens Menschen aus der (oberen) Mittelschicht. Die haben sehr wenig Ahnung von der Lebenswelt ihrer Schüler*innen, egal wie empathisch sie sind. Das ist kein Vorwurf, sie können das nicht wissen. Du erkennst die Talente von Kindern aus unteren sozialen Schichten nicht, wenn du nicht so sozialisiert wurdest. Du hast ein klares Bild davon, was ein talentiertes Kind ist. Sie müssten das in der Ausbildung lernen und viel mehr auf soziale Ungleichheit eingehen.

Wie beeinflusst Wohlstand in der Familie die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen?
Bildung wird vererbt. Eltern, die Geld haben, werden in unserem Schulsystem vorausgesetzt. Wir verlassen uns darauf, dass es zuhause Geld für Nachhilfe und kulturelle Aktivitäten gibt. Ich mache den Lehrer*innen keinen Vorwurf, sie haben begrenzte Kapazitäten, aber schon unserem Bildungssystem: So wird Ungleichheit zementiert. Wenn du wohlhabend bist, stehen dir alle Türen offen. Wenn du arm bist, dann ist alles beschlossen. Du verlässt oft nicht mal deinen eigenen Bezirk. Du kannst nicht groß träumen, das lernst du gar nicht. In Österreich wird oft gesagt: „Wenn du dich anstrengst, dann schaffst du es, du musst kämp­fen.“ Damit wird versucht, es als indivi­duelles Schicksal darzustellen, aber so einfach ist es nicht. Wenn wir diese in­dividuellen Schicksale hinnehmen und diese Aufsteigergeschichten erzählen, dann können wir rechtfertigen, nichts am System zu ändern. Aber de facto ist es so: Wenn du Geld hast, dann steht dir alles offen. Wenn du reich bist, wirst du immer reicher an Chancen, Geld, kulturellem Kapital.

Welche Rolle spielt Scham im Zu­sammenhang mit Armut?
Wenn Menschen es aus der Armut schaffen – und das tut nur ein ganz kleiner Prozentsatz –, dann sehen sie plötzlich andere Welten, in denen sie sich ständig fehl am Platz fühlen, gehen schambehaftet durch diese Wel­ten. Als junger Mensch merkst du oft erst rückblickend, wie sehr du etwas aus Scham getan hast, wenn zum Bei­spiel ein Kind mit Wut auf die Eltern reagiert, weil sie ihm keinen Marken­rucksack gekauft haben. Deswegen fühlt sich aufsteigen auch immer ein bisschen wie Verrat an der eigenen Fa­milie an. Du kommst nicht wirklich da an, wo du angeblich hinsolltest, aber bist auch nicht mehr das, was deine Eltern sind.

In Ihrem Buch „Generation Haram“ bezeichnen Sie vor allem muslimische Burschen als Verlierer des Bildungssys­tems. Welche Auswirkungen hat Rassis­mus beim Lehrpersonal?
Viele Lehrer*innen haben gegenüber muslimischen Burschen Stereotype, die bestätigt werden: Zum Beispiel der Ali, der in der Stunde nicht aufpasst, so wild ist und Mädchen unterdrückt. Bei Erich, der sich genauso verhält, wird eher eingewandt, dass er eine schwere Zeit durchmacht, weil seine Eltern sich scheiden lassen oder Ähnli­ches. Erich sieht man als Individuum, Ali als Kollektiv aller muslimischen Jungs. Es wird ein Teufelskreis, jeder bestätigt die Vorurteile des anderen. Und irgendwann werden muslimische Burschen, vereinfacht gesagt, an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Zum Beispiel suchen sie dann Anerkennung in Predigern oder muslimischen TikTo­kern. Sie sehen: „Da kann ich gut sein, wenn ich schon nicht in der Schule gut bin. Ich kann ein guter Muslim sein“ – obwohl sie eigentlich Dinge tun, die nichts mit dem Islam zu tun haben. Es ist das vorgezeichnete Schicksal und sie malen die Schablonen, die man von ihnen hat, einfach nur aus. Es ist als muslimischer Bursche wirklich schwer, es da rauszuschaffen, weil alles eigentlich gegen dich spricht.

Noura Maan arbeitet bei der Tageszeitung „Der Standard“ als Chefin vom Dienst und im Ressort Außenpolitik.

Zur Person

Melisa Erkurt (geboren 1991 in Sarajevo) ist Journalistin, Autorin und ehemalige Lehrerin aus Wien. 2021 hat sie „die_chefredaktion“, ein junges Medium von und für junge Menschen, auf Instagram und TikTok gegrün­det. Davor arbeitete sie beim ORF-„Report“. Sie schreibt eine Kolumne im „Falter“ und hostet den Ö1-Podcast „Sprechstunde“. Ihre journalistische Arbeit wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem wurde sie 2021 im deutschsprachigen Forbes „30 under 30“ angeführt, dem Ranking der 30 erfolgreichsten und innovativsten jungen Menschen unter 30.

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