Das Magazin von SOS-Kinderdorf

Schule schafft Struktur

Früh aufstehen, Hausaufgaben machen und für Prüfungen lernen: Diese Tätigkeiten gehören wohl für die wenigsten Teenager zu ihren liebsten Beschäftigungen. Und dennoch machen sie einen großen Anteil ihres Alltags aus. Für die Jugendlichen in der SOS-Kinderdorf-Wohngruppe Anninger im niederösterreichischen Möllersdorf erfüllt die Schule neben Bildung noch eine weitere wichtige Funktion.

Reportage: Anika Dang
Fotos: Ian Ehm

 

Geschichte und mittelalterliches Handwerk faszinieren den 16-jährigen Bejan (im Bild mit Sozialpädagogen Lukas Kaltenegger). Sein Berufswunsch: Schmied.

Am meisten Spaß macht Valorian der Unterricht, wenn er etwas mit seinen Händen machen, kreativ sein und sich bewegen kann. Es ist kurz nach 14 Uhr, als er von der Schule im Haus Anninger ankommt. Der 15-Jährige nimmt hinter dem Schreibtisch auf dem Bürostuhl Platz, an dem sonst nur die Betreuer*innen sitzen. Er legt seine Schultasche neben sich ab und kann vor Aufregung kaum die Füße stillhalten. Derzeit besucht er die vierte Klasse Mittelschule. Seine Lieblingsfächer sind Zeichnen, Werken und Sport. Und was liegt ihm weniger? „Englisch ist das schwerste Fach. Nur Mandarin könnte noch schwerer sein“, ist der Schüler überzeugt.

Seit Mitte Februar wohnt der 15-Jährige in der Jugendwohngruppe im niederösterreichischen Möllersdorf. So wie Valorian wachsen österreichweit rund 13.000 Kinder und Jugendliche nicht bei ihren leiblichen Eltern, sondern in Fremdbetreuung auf. Im Haus Anninger lebt er gemeinsam mit acht weiteren männlichen Jugendlichen zwischen 13 und 16 Jahren, die aufgrund unterschiedlicher Diagnosen einen besonders hohen Bedarf an individueller Betreuung und Therapie haben. Die Sozialpädagog*innen von SOS-Kinderdorf begleiten sie auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden.

In der Wohngruppe sind rund um die Uhr zwei der insgesamt neun Betreuer*innen vor Ort. Das ist notwendig, um in Krisensituationen gewappnet zu sein: „Damit sich eine Person auf Notfälle konzentrieren kann und die andere darauf, dass der Alltag weiterhin funktioniert“, erklärt die pädagogische Leiterin Nicole Cerny. Während des Besuchs sind gerade die Fachbeauftragte Nora Gselmann und der Sozialpädagoge Lukas Kaltenegger im Dienst. „Die Jugendlichen hier sind prädestiniert, aus dem Schulsystem zu fliegen, weil sie suspendiert werden oder von alleine nicht mehr in die Schule gehen würden. Wenn wir nicht am Ball bleiben, bleiben sie über“, sagt Cerny. 

Nicole Cerny: "Wenn wir nicht am Ball bleiben, bleiben sie über." 

Klopfen, bis die Tür aufgeht

Einige der WG-Bewohner waren notorische Schulverweigerer, bevor sie zu ihnen gekommen sind. Die Jugendlichen zu motivieren, wieder in die Schule zu gehen, sei laut Sozialpädagoge Kaltenegger eine sehr individuelle Angelegenheit: „Manchmal reicht es schon, wenn die Kinder raus aus dem Elternhaus sind.“ Manche Jugendliche lernen dort, wenn sie nur lange genug liegen bleiben, müssen sie nicht in die Schule – nicht so in der Wohngruppe Anninger. Wenn es sein muss, klopft Kaltenegger morgens so lange an die Zimmertür, bis sie aufgeht. Andere seien wiederum mit dem Stundenpensum in der Schule überfordert oder hätten Probleme mit den Anforderungen, die dort an sie gestellt werden. Gemeinsam wird dann an individuellen Lösungen gefeilt, zum Beispiel durch Stundenreduktion oder einen Schulwechsel. „Schulverweigerung ist meist nur ein Symptom der dahinterliegenden Problematik, dafür aber ein sichtbares“, erklärt Gselmann. 

Der 16-Jährige Bejan kam vor vier Jahren von Syrien nach Österreich, seit Kurzem wohnt auch er in der Jugend-WG. Bei der Frage nach seinem Lieblingsfach blüht der sonst eher ruhige junge Mann regelrecht auf: „Ich liebe Geschichte!“ Besonders das Mittelalter hat es ihm angetan, er schwärmt von historischen Ruinen und dem alten Bazar in seiner Geburtsstadt Aleppo. Auch wenn er gerne zur Schule geht, an manchen Tagen fällt ihm das Aufstehen schwer. Am Tag vor dem Gespräch war das zuletzt der Fall: „Als ich um 12 Uhr mittags aufgestanden und von meinem Zimmer hinunter ins Büro gekommen bin, habe ich Ärger bekommen. Direkt nach dem ‚Guten Morgen‘ wurde dann losgeschimpft.“ Verständnis für die Reaktion der Betreuer*innen habe er dennoch, sagt er lachend.

Laut Valorian ist Englisch das schwerste Fach. "Nur Mandarin könnte schwerer sein."

Dialog statt Stigmata

In der neuen Schule haben sich Valorian und Bejan schon gut eingelebt. Manchmal sei der Einstieg jedoch schwierig für die Jugendlichen, die in eine der Schulen in der Umgebung kommen: „Es gibt schon Stigmata den Jungs gegenüber, wenn Lehrende, aber auch Schüler*innen und Eltern hören, dass sie in der Wohngruppe leben. Das ist schon sehr ungerecht, was hier manchen widerfährt“, erzählt Sozialpädagoge Kaltenegger. Umso wichtiger sei der offene Dialog mit Schulen und Lehrenden, um über die Situation der einzelnen WG-Bewohner aufzuklären. 

Seit Corona beobachte der Sozialpädagoge zudem, dass schneller zu Maßnahmen wie Suspendierung gegriffen werde. Die Pandemie hat an den Schulen wie ein Brennglas gewirkt und bestehende Probleme im Bildungssystem durch Schulschließungen verstärkt. Auch in der Jugendwohngruppe war die Distanzlehre eine Herausforderung. Die große Tafel, die im Frühjahr 2020 Einzug in Nicole Cernys Arbeitszimmer gehalten hat, ist geblieben. „Während der Lockdowns haben wir hier unterrichtet“, erzählt sie und deutet auf den großen Tisch in der Mitte ihres Büros. Denn die Schule sei nicht nur ein Ort des Lernens, sondern bringe vor allem Struktur in den Alltag: „Damit die Jugendlichen wissen, warum sie in der Früh aufstehen.“

Lukas Kaltenegger (rechts): „Es gibt schon Stigmata den Jungs gegenüber, wenn man hört, dass sie in der Wohngruppe leben.“

Den Sinn erkennen

Oft hilft auch der Blick nach vorne: Die Wünsche und Ziele der Jungen sind laut Nora Gselmann sehr unterschiedlich. Eine eigene Wohnung steht weit oben auf der Liste, ebenso ein fester Arbeitsplatz. Auf die Frage, was Valorian später einmal machen möchte, kommt die Antwort wie aus der Pistole geschossen: Installateur. „Es ist praktisch, wenn man zuhause einiges selber machen kann“, sagt er. Außerdem ist sein Vater Installateur, und man kann während der Lehre schon sein eigenes Geld verdienen. Bejan will später einmal Schmied werden. Das mittelalterliche Handwerk fasziniert den 16-Jährigen bereits seit der Kindheit.

„Es gibt aber auch Jugendliche, die noch gar keine Ahnung haben, was sie später einmal machen wollen“, sagt Gselmann. Damit sind die WG-Bewohner zwar keine Ausnahme, im Gegensatz zu vielen Gleichaltrigen müssen sie jedoch mit 18 auf eigenen Beinen stehen. Denn dann endet die Betreuung im SOS-Kinderdorf. Besonders wichtig sei deshalb, die Eigenverantwortung und Resilienz der Jugendlichen zu stärken. „Es ist unsere Aufgabe, ihnen Sinn zu vermitteln“, sagt Sozialpädagoge Kaltenegger, „indem wir ihnen helfen, etwas zu finden, was sie gerne machen – und das versuchen wir ihnen auch täglich mit unserer Arbeit vorzuleben.“ 

Anika Dang ist Redakteurin bei der österreichischen Tageszeitung „Der Standard“ und beschäftigt sich mit Themen rund um Bildung und Arbeit.

Schule und SOS-Kinderdorf

Rund 1.700 Kinder und Jugendliche wachsen österreichweit bei SOS-Kinderdorf auf. Fast alle besuchen die Schule oder eine Bildungseinrichtung. Die große Herausforderung ist, für jedes Kind und jede*n Jugendliche*n den passenden Platz zu finden. Wenn dieser gefunden ist, bleiben die Betreuer*innen im ständigen Austausch mit den Lehrer*innen und Schulen. Gemeinsam wird daran gearbeitet, für jedes Kind das Umfeld zu schaffen, in dem es sich bestmöglich entwickeln kann. Nicht immer steht die schulische Leistung, im Sinne von guten Noten, im Vordergrund. Für viele der betreuten Kinder und Jugendlichen ist es bereits ein Erfolg, wenn sie regelmäßig und aktiv am Schulalltag teilnehmen können. Auch in den Familien, die mobil von SOS-Kinderdorf unterstützt werden, ist Schule ein großes Thema. Hier beraten die Kolleg*innen Eltern, unterstützen beim Lernen oder begleiten Kinder in die Schule – je nach den individuellen Bedürfnissen.

SOS-Kinderdorf setzt sich für liebevolle Klassenzimmer in ganz Österreich ein, in denen Kinder mitbestimmen dürfen, in denen ihre Vielfältigkeit gesehen und respektiert wird. Um das zu fördern, werden innovative Lehrmaterialien zum sozialen Lernen entwickelt, Lehrer*innenfortbildungen angeboten, und SOS-Kinderdorf ist auch Mitherausgeber der Schüler*innenmagazine „Spatzenpost und Co.“ des Jungösterreich Verlags.

Nicht zuletzt setzt sich SOS-Kinderdorf lautstark für die Anliegen von Schüler*innen ein und versucht die Rahmenbedingungen, in denen sich Schulen bewegen, möglichst kinderfreundlich mitzugestalten.

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