img

Systemsprenger

Kinder, die keiner haben will - Ein System stößt an seine Grenzen

Wenn Kinder keinen Platz finden

Es gibt Kinder und Jugendliche, für die kein Hilfesetting zu passen scheint. Sie bringen das System unserer Kinder- und Jugendhilfe an ihre Grenzen. SOS-Kinderdorf versucht für diese Kinder die passende Unterstützung zu finden.

 

Wie im Film...

Pflegefamilie, Wohngruppe, Kinderpsychiatrie – nirgends kann Benni bleiben. Die Neunjährige bringt mit ihrer überschäumenden Energie, ihren Wutausbrüchen und ihrem unberechenbaren, aggressiven Verhalten selbst die nervenstärksten PädagogInnen an den Rand der Verzweiflung. Benni ist wild, überfordernd, manchmal angsteinflößend. Und Benni ist schlau, lustig und wahnsinnig liebenswert. Benni ist die fiktive Hauptfigur im aktuellen Kinofilm „Systemsprenger“ der deutschen Filmemacherin Nora Fingscheidt.
Auch in unseren Betreuungsangeboten und Häusern gibt es Kinder wie Benni.

 

 

 

Systemsprenger – was heißt das eigentlich?

Als „Systemsprenger“ oder auch „Grenzgänger“ werden Kinder und Jugendliche bezeichnet, für die es auf Grund ihres auffälligen Verhaltens nur wenig bis gar keine adäquaten Unterstützungs- oder Betreuungsmöglichkeiten gibt. "Systemsprenger" ist ein faszinierendes Wort, unglaublich kraftvoll und radikal. Dabei handelt sich nicht um Hacker oder Anti-Atomkraft-Demonstranten. Selbst in der Fachwelt ist dieses Wort umstritten.


Diese Kinder und Jugendlichen zerstören kein funktionierendes System. Es sind eher gescheiterte Systemprozesse, die dazu führen, dass diese Personen nirgendwo ausgehalten werden.

Marek Zeliska
SOS-Kinderdorfleiter Burgenland


Kinder und Jugendliche, die durch ihr Verhalten (ständige Regelbrüche, Aggression, Gewalt) in kein Betreuungsangebot passen, sind nur schwer vermittelbar. Für ihre speziellen Bedürfnisse fehlen im System der Kinder- und Jugendhilfe maßgeschneiderte Angebote. Einer „Notlösung“ folgt meist rasch die nächste Entlassung. Die Folgen können weitreichend sein: Obdachlosigkeit, Drogenproblematik, Kriminalität – und der Kreislauf beginnt von vorne.

Wo die Pädagogik an ihre Grenzen stößt
  • Ein 14-jähriger bleibt 3 Monate in U-Haft, weil es keinen geeigneten Platz für ihn zu geben scheint.
  • Eine Jugendliche bleibt ohne Notwendigkeit über Monate in der Kinder- und Jugend-Psychiatrie, weil es keinen geeigneten Platz für sie gibt.
  • Trotz erforderlicher Fremdunterbringung wird wegen fehlender Plätze weiter ambulant betreut.
  • Nach dem Auslaufen der Kinder- und Jugendhilfe mit der Volljährigkeit, fühlt sich niemand mehr für die/den Jugendliche/n zuständig.

Wir haben mit unseren Experten und Expertinnen über das Sprengen von Systemen gesprochen und darüber, wie SOS-Kinderdorf mit Kindern umgeht, die scheinbar nirgendwo hinpassen.

Die Arbeit mit Systemsprengern ist ein ständiger Balanceakt zwischen den Regeln des Hilfssystems und den individuellen Bedürfnissen der Kinder. (Foto: SOS-Archiv)

Systemsprenger-Sein ist keine Diagnose

Julie Melzer, SOS-Kinderdorfleitung Stübing

Systemsprenger-Sein ist keine Diagnose, keine Persönlichkeitseigenschaft und kein Merkmal der Betroffenen. 

Um auf einen solchen jungen Menschen eingehen zu können und letztlich auch eine passende Hilfe „maßzuschneidern“, braucht es ein tiefgreifendes Fallverstehen, ein echtes Interesse an der Person des Kindes und eine gewisse Gelassenheit gegenüber problematischen Verhaltensweisen.

Vor allem drei Verhaltensweisen fordern die Systeme heraus: Körperliche Gewalt, insbesondere gegenüber jüngeren Kindern oder MitarbeiterInnen inklusive sexualisierter Gewalthandlungen, offen inszenierter Drogenkonsum sowie Abgängigkeiten in Kombination mit selbstgefährdendem Verhalten.

Ohne Haltung, Halt und Handwerkszeug läuft man als Einrichtung immer wieder Gefahr, einen Anteil an der „Produktion“ von Systemsprengern zu leisten. Nach einer kurzen Anpassungsphase tendieren viele bindungstraumatisierte Kinder dazu, die Erwachsenen zu testen, ob ihr Beziehungsangebot hält, was es verspricht, oder ob sie wieder fallengelassen werden, so wie von ihrer Familie oder der Einrichtung davor.

Man muss einen langen Atem haben 

Sabine Moosbrugger, Pädagogische Leiterin SOS-Jugendwohnen Vorarlberg

SOS-Kinderdorf unterstützt ein individuelles Betreuungskonzept. Dabei ist es durchaus möglich, dass eine Maßnahme nicht funktioniert. Dann muss man andere Wege suchen. Realistischer Weise muss man leider sagen, es wird nicht möglich sein, für alle Kinder und Jugendliche den Rahmen so anzupassen, dass es funktioniert.

Man muss einen langen Atem haben und immer wieder an der Professionalität arbeiten, persönliche Kränkungen haben da keinen Platz. Systemsprenger stellen spezielle Anforderungen an die MitarbeiterInnen, daher ist eine regelmäßige Einzel- und Gruppensupervision so wichtig. Mir muss es selber gut gehen, damit ich mit diesen Jugendlichen arbeiten und mit diesen schlimmen Geschichten umgehen kann.

Diese Jugendlichen haben eine Chance im Leben verdient. Leider schaffen es nicht alle, aber es ist immer wieder schön für uns zu sehen, wenn es den Kindern und Jugendlichen gut geht und wir eine Beziehung aufbauen können.

Was ist denn "normal"?

Julia Keplinger, Pädagogische Leiterin im SOS-Kinderdorf Altmünster

Diese Kinder sind nicht gefährlich, bringen aber ihr Umfeld und sich selbst häufig an Grenzen. Das ist für die Kinder mindestens genauso herausfordernd, wie für die betreuenden Personen. Es sind keine „Monster“, sondern häufig sehr liebenswerte Kinder mit viel Potential. Aufgrund ihrer Lebensgeschichte zeigen sie Verhaltensweisen, die von außen als nicht adäquat wahrgenommen werden. Blickt man hinter das Verhalten und die „Symptome“, zeigt sich, dass es für das Verhalten einen „guten Grund“ gibt.

Im Vordergrund soll das Kind mit seinem Tempo und seinen Bedürfnissen stehen, „übliche“ Prioritäten wie Schulbesuch von 8 bis 12 Uhr, Hausaufgaben, Einfügen in den Klassenalltag etc. müssen im Bedarfsfall hintangestellt werden.

Bei SOS-Kinderdorf betrachten wir die Kinder und Jugendlichen als Individuen, schauen hinter ihr Verhalten und versuchen, für jede und jeden das passende Setting zu kreieren.

 

Individuelle, kreative Lösungsansätze suchen

Leopold Auer, Pädagogischer Leiter Mädchenwohnen Graz

Systemsprenger sind - ohne es zu wollen - Spezialisten, die durch ihr Verhalten Schwächen in der Kinder- und Jugendhilfe aufdecken und uns auffordern kreativer, mutiger, flexibler zu werden – sowohl in den Settings als auch in den pädagogischen Zugängen.

Meist handelt es sich um mehrfach traumatisierte Kinder, die über einen längeren Zeitraum von jenen Personen traumatisiert und enttäuscht wurden von denen sie eigentlich Sicherheit und Geborgenheit erhalten sollten. Besonders wichtig im Umgang mit diesen Kindern und Jugendlichen sind verlässliche Beziehungen. Jeder erneute Beziehungsabbruch bedeutet eine erneute Traumatisierung und Bestätigung für das Kind, dass es „nirgendwo dazugehöre“.

Es müsste ein System der Früherkennung implementiert werden. Es gilt individuelle, kreative Lösungsansätze zu suchen. Es gibt keine Generalrezepte. Biografiearbeit und Anamnese können beitragen um Tendenzen zu erkennen und frühzeitig „aktiv“ zu werden.

SOS-Krisenhilfe

Gerade die Schwächsten in der Gesellschaft brauchen einen starken Partner. Wir machen uns für Kinder in Not stark und unterstützen auf vielfältige Weise.