Hilfe & Begleitung – 20.02.24

Über das Flüchten und wieder Ankommen

Die Hilfsmaßnahmen wurden seit Kriegsbeginn in der Ukraine massiv ausgeweitet: 11 Familienzentren und 67 kinderfreundliche Räume (Child Friendly Spaces) bieten Familien Hilfe in jeglichen Belangen.

Die Familienzentren sind Wohlfühlzonen für Familien und Kinder, in denen Erziehungsarbeit, Sprach- und Kunstkurse, psychologische Beratungen, Elternworkshops und jede Menge Spielsachen angeboten werden. Ein Fokus dieser Familienzentren liegt etwa auf Sprachunterricht. "Wegen der ständig angespannten Lebenssituation entwickeln viele Kinder massive Sprachprobleme oder hören sogar ganz auf zu sprechen. Jede zweite Mutter, die in unser Zentrum kommt, berichtet von einem oder sogar mehreren Kindern mit Sprachproblemen", so Maryna, Sozialarbeiterin im Familienzentrum in Ivano-Frankivsk. Viele der Mitarbeiter*innen der Familienzentren sind selbst Binnenvertriebene, die also genau verstehen können, mit welchen Herausforderungen die Familien zu kämpfen haben.

 

Eine Sozialarbeiterin im Familienstärkungszentrum hilft Kindern wieder ihre Sprache zu finden.


 

"Ich bin sehr stolz auf meine Tochter"

Inna, eine junge Mutter, die eine traumatisierende Flucht aus ihrer Heimatstadt Mariupol hinter sich gebracht hat, besucht das Familienzentrum in Ivano-Frankivsk mit ihrer Tochter regelmäßig. Wenn sie von ihrer Flucht erzählt, verändert sich ihr Gesichtsausdruck, ihr Blick wird unruhig.

Sie lebte mit ihrer damals fünfjährigen Tochter und ihrem Mann in Mariupol und führten ein normales, glückliches Leben. Bis zum 24. Februar 2022, als sich ihr Leben schlagartig änderte. Vor der Familie lag ein wochenlanges Leben im Ausnahmezustand: ohne Strom, Heizung, Essen und medizinischer Versorgung. Die Familie entwickelte aus der Not heraus einige Überlebensstrategien: sie verbrannten Möbel, um sich zu wärmen oder schmolzen Schnee um ihn zu trinken. Erschwerend hinzu kam, dass sich der Gesundheitszustand der Tochter dramatisch verschlechterte. Auch Inna wurde krank und konnte die rechte Hälfte ihres Körpers nicht mehr spüren. Es blieb der Familie keine andere Möglichkeit als eine gefährliche Flucht aus der Stadt zu wagen. Allen Widrigkeiten zum Trotz schaffte es die Familie in eine sicherere Stadt zu fliehen, ein Krankenhaus aufzusuchen und langsam wieder zu Kräften zu finden.

 

Inna und ihre Familie wird vom Familienzentrum unterstützt.


Die Familie zog in den Westen – nach Ivano-Frankivsk und hörte via Mundpropaganda von den Hilfsangeboten von SOS-Kinderdorf. SOS-Kinderdorf finanzierte die notwendige medizinischen Versorgung für das schwere Asthma der Tochter und stattete die Familie mit vielen Notwendigkeiten, wie Kleidung, Geschirr und Matratzen aus. "Wir hatten nichts mehr", erzählt Inna. Außerdem nahm die Familie die Dienste der Sozialpädagog*innen und der Psychotherapeut*innen in Anspruch. Das Familienzentrum in Ivano-Frankivsk ist zudem ein Ort für Inna, an dem sie und ihre Tochter Freundschaften geschlossen haben, sich austauschen können. Daher besuchen sie das Zentrum regelmäßig und nehmen häufig an den verschiedensten Gruppen-Aktivitäten teil.

 

Meine Tochter ist heute ein zufriedenes Mädchen und sehr gut in der Schule. Ich bin sehr stolz auf sie

Inna


 

"Ich fühle mich wieder wie ein Mensch"

Auch Halyna besucht regelmäßig ein Familienzentrum in Lemberg. Bisher hat sie ihre zweijährige Tochter noch nicht gebracht, hat es aber bald vor. "Das Zentrum ist etwas schwierig von mir zu erreichen, ich muss zwei Busse nehmen - aber die Anreise ist es mir wert." Halyna nimmt besonders gerne und regelmäßig an den Kunstworkshops teil. "Ich war früher sehr kreativ, aber hatte in den letzten Jahren wenig Motivation und Zeit dafür. Hier in den Kunstworkshops kann ich meine kreative Ader endlich wieder ausleben. Ich fühle mich wieder wie ein Mensch und nicht  'nur' wie eine Mutter."

 

Wir legen einen großen Wert auf kreatives Schaffen. Ob Skulpturen, Malen, Zeichnen – etwas mit unseren Händen erschaffen, löst sowohl bei Kindern als auch Erwachsenen Spannungen und ist sehr heilsam.

Maryna
Sozialarbeiterin
Halyna besucht die Kunstworkshops und kann so für ein paar Stunden abschalten und ganz sie selbst sein.

 

"Everything matters"

Eine weitere Zielgruppe der Familienzentren sind Pflegeeltern. So wie etwa Nataliia, eine Pflegemutter von fünf Kindern. Vor dem Krieg hat sie nur 5 km von der jetzigen Frontlinie entfernt gelebt. Ob es ihr Zuhause noch gibt, weiß sie nicht. Sie sind alle gemeinsam mit ihrer Katze, die genauso ein Familienmitglied ist, in den Osten geflüchtet. Nur vier Rucksäcke hatten sie dabei, denn der Zug war überfüllt. Große Gepäckstücke waren nicht erlaubt. "We went to nowhere", sagt Nataliia. Sie hatten kein Ziel. Nur weg, nicht wissend, wohin.

 

Pflegemutter Nataliia wird vom Familienzentrum unterstützt. Sie hat sich so gut eingelebt, dass sie jetzt noch zwei weitere Pflegekinder aufnehmen möchte.


Als sie im Westen der Ukraine ankamen, lebten sie zuerst in einem Hostel. Nach vier Monaten erfuhr sie über Facebook vom Familienzentrum von SOS-Kinderdorf. Sie rief an und vereinbarte einen Termin. Mit all ihren Dokumenten kam sie dann und beschrieb ihre Situation. Vier Stunden sollte der Termin dauern und als Nataliia davon erzählt, wirkt sie immer noch gerührt darüber, dass sich jemand so viel Zeit dafür nahm, ihre Bedürfnisse zu erheben. Mit den Sozialarbeiterinnen von SOS-Kinderdorf zu reden fiel ihr nicht zuletzt auch darum so leicht, weil viele von ihnen selbst Fluchterfahrung haben. "Viele Menschen wissen nicht, wie es ich anfühlt, mit nichts zu flüchten. Aber hier bekam ich Verständnis."

Als die Familie in der West-Ukraine ankam, hatte sie nichts und benötigte alles. Oder wie Nataliia es formuliert: "Everything matters!" Sie erinnert sich noch gut an die konkrete Hilfe, die sie von SOS-Kinderdorf erhalten hat. Und daran, wie proaktiv die Kolleginnen waren. "Sie haben genau gewusst, was wir brauchen." Für jede dieser Hilfsleistungen ist Natalia sehr dankbar.

 

Die Hilfsleistungen haben uns die Chance gegeben, als eine Familie hier zu leben und ein normales Leben zu führen

Nataliia
 

Heute blickt Nataliia positiv in die Zukunft. Sie hat sich mit ihrer Familie ein stabiles Leben in der West-Ukraine aufgebaut. Zukünftig will sie zwei weitere Kinder aufnehmen. Nicht zuletzt, weil sich auch ihre Pflegekinder weitere Geschwister wünschen. "Sie wissen, wie es sich anfühlt, in schwierigen Situationen keine Eltern zu haben. Und sie haben gefragt – jetzt, wo es uns gut geht, können wir da nicht noch Geschwister bekommen?" Und ja – die Vorbereitungen laufen bereits.

 

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