Die Kindheit von Michelle und Vanessa war lange keine. "Unsere Mama war schizophren und alkoholkrank. Wir mussten viel für sie da sein. Manchmal ist sie in der Früh erst von Lokalen heimgekommen, wenn wir schon in die Schule mussten", erzählen die beiden Schwestern im Büro des SOS-Kinderdorfs in Graz.
Wenn Michelle und Vanessa sich an schlimme Zeiten erinnern, lächeln sie oft trotzdem. Denn sie wissen: Am Ende ist es doch gut ausgegangen.
Die heute 27-jährige Michelle erzählt von der Zeit mit ihrer Mutter im Frauenhaus: "Wir haben zu sechst in einem Zimmer geschlafen, uns die Küche mit einer anderen Familie geteilt." Vanessa (26) erinnert sich an die vielen Umzüge, die vielen Schulwechsel: "Es gab immer Streit zwischen unseren Eltern, bis sie sich getrennt haben." Irgendwann geht das Jugendamt dazwischen: "Sie meinten, wir zwei, die Ältesten, müssen weg. Unsere drei Schwestern sind bei unserem Vater geblieben."
Vanessa und Michelle kommen in die Jugend-WG der Stadt Graz.
Da sind sie elf und zwölf Jahre alt. "Es war Freiheit. Wir haben Ausflüge gemacht, es gab Regeln – alles das, was es daheim nicht gab. Endlich ein stabiles Leben", sagt Vanessa. Doch es warten noch Stolpersteine. Vanessa zieht doch noch einmal zurück zu ihren Eltern: "Die hatten aber kein Interesse an mir." Sie kommt bei der Familie einer Schulfreundin unter, später in eine Pflegefamilie, dann in das SOS-Kinderdorf. Der Kontakt zu ihrer Schwester reißt nie ab.
"Wir haben versucht, unser eigenes Leben aufzubauen, haben uns gegenseitig gepusht. Als Kind wurde uns oft daheim erzählt: Das geht nicht, das kannst du nicht. Aber wir haben uns nicht abbringen lassen", sagt Michelle.
Doch die Schwestern kriegen zu spüren, dass sie anders sind, weniger wert – von Lehrern, Mitschülern, sogar von Ärzten. "Wir wurden als Heimkinder abgestempelt und nicht ernst genommen", sagt Vanessa. Michelle nickt und sagt: "Jeder hat ein Bild von einem Heimkind. Und das war immer: Die sind selbst schuld. Aber wir konnten ja nichts dafür."
Doch Michelle und Vanessa haben Träume und Ziele.
Michelle schafft es nach der Mittelschule aufs Gymnasium. "Ich hatte immer großen Respekt vor der Matura. Das schien für Kinder wie uns unerreichbar." Aber sie zieht es durch und maturiert am Borg Monsberger in Graz. Während der Schulzeit lebt auch sie zweieinhalb Jahre in Einrichtungen des SOS-Kinderdorfs. Am Ende allein in einer Wohnung. Danach fängt sie an zu studieren, arbeitet in einer Bank, wechselt ins Marketing. Heute ist sie selbstständig, hat eine eigene Marketingfirma und berät junge Unternehmerinnen.
Vanessa macht eine Lehre in der Kosmetik, stürzt sich in Praktika. Mittlerweile hat sie ihr eigenes Geschäft in Graz. Bei zahlreichen Wettbewerben wurde sie ausgezeichnet. Im Vorjahr holte sie sich in der Kategorie Wimpernverlängerung gar den Europameistertitel. Doch noch viel schöner: 2018 wurde Vanessa Mutter. Ihre Tochter kommt bald in die Schule. Vanessa zieht sie alleine groß. Sie will es anders machen als ihre Eltern: "Ich rede viel mit ihr, versuche rauszufinden, wie es ihr geht. Als Kind hab ich mich oft sehr alleine gefühlt, obwohl wir so viele Geschwister waren."
Doch in den Erzählungen der Schwestern ist kein Zorn zu hören.
Zu ihrem Vater haben sie ein gutes Verhältnis: "Er ist ein starker Halt. Unsere drei Schwestern wachsen bei ihm auf. Er versucht uns zu unterstützen und wir ihn. Nur damals war er selbst in der Krise und konnte sich nicht um uns kümmern."
Was sie Kindern sagen würden, denen es heute ähnlich geht wie ihnen damals? "Geht nicht, gibt’s nicht", sagt Michelle. Vanessa denkt kurz nach und sagt dann: "Das schätzen, was man hat, und nicht das, was man nicht hat."