Das Magazin von SOS-Kinderdorf

„Ich bin da, weil das Kind es gerade braucht“

Christine ist Bereitschaftspflegemutter. Sie steht rund um die Uhr zur Verfügung, wenn Kinder in Krisensituationen ein temporäres neues Zuhause brauchen. Dabei muss es oft schnell gehen. Manchmal erhält sie morgens einen Anruf, am Nachmittag kommt schon das Kind.

Text: Theresia Verweyen
 

 

 

Es ist ein sonniger Montagnachmittag. Der Himmel über dem kleinen Dorf etwas außerhalb von Salzburg ist hellblau, es ist fast keine Wolke zu entdecken. Das Haus von Bereitschaftspflege-Mutter Christine könnte schöner nicht liegen: Das Bergpanorama vor der Tür, ebenso ein türkis glitzernder See.

Christine öffnet herzlich lächelnd die Tür. Sie ist eine von fünf Bereitschaftspflegepersonen in Salzburg, die bei SOS-Kinderdorf angestellt sind, die jederzeit bereitstehen, sollte ein Kind zwischen 0 bis 3 Jahren dringend und kurzfristig einen Platz brauchen. „Manchmal bekomme ich morgens einen Anruf und am Nachmittag kommt schon das Kind. Oft gibt es aber eine Vorlaufzeit von ein paar Tagen“, erzählt Christine. Die Kinder bleiben zwischen ein paar Tagen bis zu ca. 14 Monaten bei ihr.

Christine führt in ihre helle Küche, hier fällt sofort die bunte Kinderecke mit einer Spielküche und vielen Spielsachen auf. Der eineinhalbjährige Armin ist gerade hochkonzentriert dabei, eine Stoff-Pizza mit Stoff-Tomaten und Stoff-Salami zu belegen. „In den letzten sechs Jahren habe ich inklusive Armin und seiner Schwester insgesamt 16 Kinder bei mir aufgenommen“, erzählt Christine und zeigt auf eine Fotowand, die sich direkt über der Spieleecke befindet. Auf den Fotos sind viele lachende Kinder zu sehen – darunter auch ihre eigenen vier.

 

Eine Krisenmaßnahme der Kinder- und Jugendhilfe

„In Krisen- und Akutsituationen, in denen Kinder nicht (mehr) von ihren Eltern betreut und versorgt werden können, kann die Kinder- und Jugendhilfe entscheiden, dass sie vorübergehend zu Bereitschaftspflegepersonen (in anderen Bundesländern gilt die Bezeichnung Krisenpflegeeltern) kommen. Bei Kindern zwischen 0 bis 3 Jahren sind individuelle Betreuungen notwendig“, erläutert Irene Hochegger, Pädagogische Leitung für die Bereitschaftspflege. Es handelt sich um eine „Gefahr in Verzug“-Maßnahme der Kinder- und Jugendhilfe. Gründe für eine Kindesabnahme können vielfältig sein, beispielsweise Süchte oder Vernachlässigung. Es gibt aber auch weniger dramatische Fälle, wenn die temporäre Abnahme freiwillig oder geplant passiert – z. B. eine alleinerziehende Mutter, der es gesundheitlich nicht gut geht und die deswegen Unterstützung braucht. „Sehr oft begegnen wir Eltern, die denken, es wäre ein Versagen, in eine Krise zu kommen. Wir sehen das nicht so, denn niemand ist gefeit davor, in eine Krise zu geraten“, ergänzt Irene.

Die Kinder bleiben so lange, bis die Krise beendet ist. Ist eine Rückkehr zu den Eltern nicht möglich, kümmert sich die Kinder- und Jugendhilfe um einen geeigneten Platz für die Kinder, beispielsweise bei Langzeitpflegeeltern oder in betreuten Wohngemeinschaften. „Rund ein Drittel der Kinder kehrt wieder zu ihren Eltern zurück“, erläutert Irene.

Diese anspruchsvolle Aufgabe können Personen, die allein, in einer Lebensgemeinschaft oder Partnerschaft leben, mit und ohne eigene Kinder, übernehmen. Bereitschaftspflegepersonen werden wie Pflegepersonen von der Kinder- und Jugendhilfe auf ihre Eignung überprüft und absolvieren ebenfalls die vorbereitende Ausbildung für Pflegepersonen. Sie müssen jedoch zusätzlich ein Modul für Bereitschaftspflege absolvieren.

Ein weiteres Familienmitglied auf Zeit

Armin ist mit dem Belegen seiner Pizza fertig. Er übergibt sie stolz an Christine, die sich herzlich bedankt, woraufhin er ihr freudig die Arme entgegenstreckt. Sie hebt ihn zu sich, er macht es sich auf ihrem Schoß bequem und kuschelt sich zufrieden an sie.

„Bei einer ‚Gefahr in Verzug‘-Maßnahme muss es meist sehr schnell gehen“, erläutert Irene. Bei der Erstausstattung (Kleidung, Gitterbetten o. Ä.) unterstützt SOS-Kinderdorf. „Die größte Herausforderung für mich sind die ersten Stunden mit den Kindern. Der Abschied von den Eltern ist oft dramatisch und traumatisch für sie. Und teilweise kommen sie sehr verwahrlost“, erzählt Christine.

 

Der Garten ist ein wahres Paradies für Kinder: mit Schaukel, Baumhaus und Hühnerstall. 

 

Wenn die Bereitschaftspflegepersonen eine eigene Familie haben, ist die Bereitschaft der gesamten Familie für die Kinder- und Jugendhilfe essenziell und wird entsprechend geprüft. „Ein Grund, warum ich mich für diese Tätigkeit entschieden habe, sind meine eigenen Kinder. Sie sind sehr behütet aufgewachsen. Ich habe es als Bildungsauftrag ihnen gegenüber empfunden, aufzuzeigen, dass das nicht selbstverständlich ist. Ich bin mir sicher, es tut ihrer Persönlichkeitsentwicklung sehr gut, das zu erleben“, erklärt Christine. „Und der Hauptgrund ist, ich möchte gerne meine freien Kapazitäten und all die Geschenke, die das Leben uns beschert hat, mit anderen teilen.“

Armin und seine siebenjährige Schwester sind seit ein paar Wochen bei der Familie. Armins Mutter ist gerade im Krankenhaus. Christine führt fort: „Es geht ihr aber glücklicherweise schon viel besser, ich denke, in einigen Tagen können sie zu ihrer Mutter zurückkehren.“ Normalerweise wäre die Schwester mit sieben Jahren zu alt für diese Art von Krisenunterbringung, aber Geschwister werden nach Möglichkeit nicht getrennt.

„Es ist so schön zu sehen, wie herzlich meine eigenen Kinder die Kinder in unsere Familie aufnehmen, wie dankbar die Kinder dafür sind und wie wohl sie sich nach kurzer Zeit bei uns fühlen“, ergänzt Christine.

Armin ist eines von 16 Kindern, die Christine in den letzten sechs Jahren bei sich aufgenommen hat. 

Geregelte Besuchskontakte

Während die Kinder in der Krisenunterbringung leben, können Eltern ihre Kinder in der Regel ein bis zwei Mal in der Woche in Räumlichkeiten von SOS-Kinderdorf treffen. Die Besuche werden von einer SOS-Kinderdorf Mitarbeiterin begleitet und durchgeführt. Jeder Bereitschaftspflegeperson wird eine SOS-Kinderdorf Sozialarbeiterin zugeteilt, die die Familie bei verschiedensten Themen unterstützt. Ein zu häufiger Kontakt zwischen den Eltern und der Bereitschaftspflegeperson wird meist vermieden. „Mir ist es sehr wichtig, dass die Eltern mich nicht als Konkurrenz sehen. Ich bin nur da, weil das Kind es gerade braucht. Ich will nur das Beste für ihr Kind“, ergänzt Christine.

 

Abschied nehmen

Armin wird es auf Christines Schoß sichtlich etwas zu langweilig, so klettert er umständlich hinunter, geht schnurstracks auf die geschlossene Terrassentüre zu und dreht sich mit einem auffordernden Blick um. Christine folgt ihm und öffnet die Türe und gibt somit den Blick auf den Garten frei: Hier gibt es alles, was Kinderherzen höherschlagen lässt: Schaukeln, einen Sandkasten, einen Hühnerstall, ein Trampolin und ein großes Baumhaus, das fast schon einer Terrasse gleicht. Armin läuft sofort in Richtung Schaukel, setzt sich hin und lässt sich sanft von Christine anschubsen.

„Der Abschied von den Kindern ist für mich und meine Familie natürlich mit Trauer verbunden. Wir gewöhnen uns sehr schnell an diese kleinen Menschen. Aber wenn ich weiß, dass sie auf einem guten Weg und gut aufgehoben sind, fällt es leichter“, erzählt Christine. Ab und zu bekommt sie danach noch Fotos, mit ein paar Kindern pflegt sie bis heute Kontakt. „Ich habe vor ein paar Jahren eine Faschingsfeier veranstaltet und habe einige Kinder, die bei mir waren, eingeladen. Das war so schön“, erinnert sich Christine schmunzelnd. „Wenn die Kinder wieder zu ihren Eltern zurückkehren können, kommt es jedoch selten vor, dass wir in Kontakt bleiben. Ich glaube, die Familie will diese Zeit dann hinter sich lassen.“

 

Die Nadeln im Heuhaufen

Plötzlich geht das Gartentor auf und Sarah, Armins Schwester läuft mit offenen Armen auf Christine zu. „Hallo, Sarah! Wie war‘s in der Schule?“, ruft Christine ihr zu. Sarah hat sich heute in ihrer neuen Schule eingeschrieben, begleitet von Lisa, der SOS-Kinderdorf Sozialarbeiterin, die Christine und ihre Familie unterstützt. Sarah klettert auf das Trampolin, hüpft ausgelassen und erzählt Christine währenddessen von ihren Eindrücken. Ein paar Meter weiter hat sich Armin gerade einen Spiel-Rasenmäher geschnappt und geht konzentriert seiner Arbeit nach.

„Kinder in Krisensituationen brauchen besonders viel Zuwendung, Zeit und Akzeptanz. Wir sind so dankbar über tolle Menschen wie Christine, die diesen Job so wunderbar bewältigen“, so Irene. „Die Suche nach diesen besonderen Menschen, die sich gerne dieser anspruchsvollen Aufgabe stellen, ist wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen.“ 

 

Krisenpflege bei SOS-KInderdorf

  • In Krisen- und Akutsituationen, in denen Kinder nicht (mehr) von ihren Eltern betreut und versorgt werden können, kann die Kinder- und Jugendhilfe entscheiden, dass sie vorübergehend zu Bereitschafts- bzw. Krisenpflegepersonen kommen.
     
  • Bereitschafts-  oder Krisenpflegepersonen erhalten die gleichen finanziellen Entschädigungen wie Pflegepersonen, jedoch ein um 50 Prozent erhöhtes Pflegekindergeld. Sie sind für 15 Stunden bei SOS-Kinderdorf angestellt und werden gemäß Kollektivvertrag entlohnt.
     
  • In Salzburg gibt es seit 2019 Bereitschaftspflegepersonen von SOS-Kinderdorf. Aktuell sind es fünf Bereitschaftspflegepersonen.
     
  • In Kärnten gibt es seit 2010 Krisenpflegeeltern von SOS-Kinderdorf. Aktuell sind es acht Krisenpflegepersonen.
     
  • In Kärnten und Salzburg werden jährlich ca. 56 Kinder in Krisen-/ Bereitschaftspflegefamilien betreut.

 

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