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„Ich bin meinen Eltern schon auch ähnlich. Das war die härteste Erkenntnis“

Elke Winkens zählt zu den erfolgreichsten Schauspieler*innen im deutschsprachigen Raum – egal ob im Film, Fernsehen oder Theater. In „How to Be Normal and the Oddness of the Other World“ spielt sie eine Mutter, deren Tochter nach einem Jahr in der Psychiatrie nach Hause zurückkehrt und sich vollkommen von der Familie entfremdet. Im Interview spricht Winkens nicht nur über ihre neueste Filmrolle, sondern auch über ihre eigene Kindheit und Jugend voller Gewalt.

Interview: Harald Triebnig
 

 

How to be Normal and the Oddness of the Other World“ ist Ihr erster Kinofilm seit fast 15 Jahren. Wie fühlt es sich an, sich selbst wieder auf der ganz großen Leinwand zu sehen?

Es fühlt sich schön an. Früher habe ich es nicht so gut ausgehalten, mich selbst zu sehen. Mittlerweile kann ich das aber ganz gut. Ich trage in diesem Film überhaupt kein Make-up und habe nur drei Minuten in der Maske gebraucht, weil man mir einfach einen Haarzopf gebunden hat. Ich mag diese Natürlichkeit, die ich auf der Leinwand sehe, und ich mag es, wie ich spiele. Auch das war nicht immer so. Es war ein langer Weg, bis ich mich selbst gut gefunden habe – privat und schauspielerisch. Jetzt bin ich wahnsinnig stolz auf den Film und sage: Es ist der beste, in dem ich je mitgespielt habe.

 

Wussten Sie schon beim Lesen des Drehbuchs, dass das so wird?

Ich habe zumindest gleich gemerkt, da steckt sehr viel drin, was ich in meiner Kindheit und Jugend selbst erlebt habe. Pia (Anm.: die Hauptfigur und Filmtochter von Winkens) kommt ja am Beginn des Films mit Mitte 20 zurück in die Familie, nachdem sie ein Jahr in der Psychiatrie verbracht hat. Sie zieht sich aber sofort zurück und entfernt sich immer weiter von uns Eltern. Dieses Verhalten kenne ich noch von mir selbst. Ich war als junger Mensch magersüchtig und hatte ein sehr schwieriges Verhältnis zu meinen Eltern.

 

Wie reagiert Mutter Elfie (Anm.: Elke Winkens’ Rolle) im Film auf das Verhalten der Tochter?

Sie kann damit nicht umgehen und versucht, die an der Oberfläche sichtbaren Symptome zu bekämpfen. Damit ja niemand davon erfährt, dass es ihrer Tochter nicht gut geht. Die Eltern verschweigen auch, dass Pia in der Psychiatrie war. Sie erzählen, dass sie für ein Jahr auf einer Eliteuniversität war. Ich habe mir während der Dreharbeiten so oft gedacht, ich würde mir selbst eine Mutter wünschen, die ganz anders mit der Situation umgeht. Aber es ist wichtig, dass wir Elfie eben genau so zeigen. Denn es gibt viele Eltern, die mit solchen Situationen nicht umgehen können.

Die Eltern schaffen es nicht, zu ihrer Tochter vorzudringen. Zum zwölfjährigen Nachbarsbub Lenni entwickelt Pia aber eine besondere Beziehung. Wie sieht diese aus?

Der kindliche Zugang von Lenni zu Pia ist der schönste. Sie sagt immerfort zu ihm: „Ich habe kein Gesicht mehr.“ Und er greift ihr daraufhin ins Gesicht und fragt: „Spürst du das?“ Als sie das bejaht, sagt er: „Siehst du, du bist noch da.“ So sollten es auch die Eltern machen – die Probleme der Tochter annehmen und mit ihnen umgehen zu lernen. Und nicht alles verdrängen und verstecken wollen. Wir sollten uns sowieso viel mehr von Kindern abschauen.

Sie selbst haben seit frühester Kindheit ein sehr inniges Verhältnis zu Ihrem Zwillingsbruder Karsten. Was ist das Besondere an dieser Beziehung?

Zwillingsgeschwister stehen sich ja oft sehr nahe. Das ist bei uns auch so. Ich spüre, wenn es Karsten nicht gut geht, und umgekehrt spürt er es auch.

Wir sehen uns leider viel zu selten, weil wir nicht in derselben Stadt leben, aber wir telefonieren sehr oft miteinander, und ich habe immer ein sehr starkes Bedürfnis, ihn zu sehen. Wir haben auch noch einen älteren Bruder, zu dem ich allerdings keinen Kontakt habe. Das ist einfach nicht möglich, da wir eine sehr schwierige Kindheit und Jugend hatten und dadurch viel zerstört wurde.

In dieser Ausgabe des SALTO geht es auch darum, dass Familien nicht immer funktionieren. Was hat in Ihrer Familie nicht funktioniert?

Wie viel Zeit haben Sie? (Pause) Ich würde sagen, es hat überhaupt nichts funktioniert. Gar nichts! Teilweise bin ich heute noch sprachlos, wenn ich daran zurückdenke. Mein Vater war ein traumatisierter Mann, der seinen eigenen Vater früh im Krieg verloren hatte und von seiner Mutter geschlagen wurde. Es gab finanzielle Probleme, psychische Gewalt und körperliche Misshandlungen in meiner Familie. Mein älterer Bruder wurde im Alter von einem Jahr von meinem Vater gegen die Wand geworfen. Ich erlebte mit sechs Jahren den ersten sexuellen Übergriff durch einen Gast unseres Wirtshauses und wurde mit 16 Jahren durch einen Bekannten der Familie vergewaltigt.


Wussten Ihre Eltern von den sexuellen Misshandlungen?

Ja, den Wirtshausgast hatte meine Mutter eigenhändig hinausbefördert. Zu dieser Zeit funktionierte sie als Mutter noch. Sie hat mich beschützt. Als ich zehn Jahre später vergewaltigt wurde, war das nicht mehr der Fall. Ein Bekannter meiner Eltern wollte, dass ich einem Mädchen Tanzunterricht gebe. Zum ersten Treffen kam er ohne sie, ging mit mir essen, vergewaltigte mich in seinem Auto und brachte mich anschließend nach Hause. Als ich dort meiner Mutter in die Augen sah, sagte sie kein Wort. Heute bin ich überzeugt, dass sie wusste, was dieser Mann mir angetan hatte. Aber sie unternahm nichts, wie sie auch nichts tat, wenn mein Vater mich wieder einmal schlug.


In welchen Situationen wurde Ihr Vater gewalttätig?

Das konnte man nicht einschätzen. Es kam aus dem Nichts. Er konnte in einem Moment noch lachen und im nächsten hat es geknallt. Deswegen war ich immer unter Anspannung und habe versucht vorauszuahnen, wann es das nächste Mal so weit ist. Ich habe auch versucht, ihn zu besänftigen – mit erfundenen guten Noten in der Schule oder mit Witzen. Das hat auch manchmal funktioniert. Aber er blieb trotzdem unberechenbar.

Wir sollten uns sowieso viel mehr von Kindern abschauen.

Elke Winkens
 

In einem Interview haben Sie vor einigen Jahren erzählt, dass Sie auch früh finanzielle Verantwortung übernehmen mussten. Wie kam es dazu?

Das Wirtshaus lief gut, aber meine Mutter musste es aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Ich war bereits als Kind bei Tanzwettbewerben sehr erfolgreich, und bald war es auch so, dass meine Auftritte Geld einbrachten. Das wurde von meinen Eltern einfach ausgegeben. Als Kind denkst du dir ja nichts dabei. Aber ich weiß noch genau, es gab einen Moment, als wir drei Geschwister alle sagten: „Das kann nicht sein.“ Eines Tages stand mein Vater mit einem großen Mercedes vor der Tür. Uns fehlte es wirklich am nötigsten und er kam mit einem Neuwagen an.


Konnten Sie in dieser Zeit mit jemand über die Gewalterfahrungen sprechen?

Nein, ich hatte auch überhaupt keine Zeit dafür. Ich musste in die Schule, zum Tanztraining, zu den Auftritten und in der Wirtschaft mithelfen. Was aber der Hauptgrund war: Ich habe mich unendlich für all das geschämt und deswegen nichts gesagt. Aber ich hatte auch großes Glück. Ein befreundetes Paar meiner Eltern hatte mitbekommen, was bei uns zuhause alles im Argen lag. Sie haben mir 200 Mark gegeben und gesagt: „Wenn es wieder einmal ganz arg ist, steigst du in ein Taxi und kommst zu uns.“ Das Geld habe ich in meiner Puppe versteckt, und mit 16 war es dann so weit. Ich habe mich in ein Taxi gesetzt und bin zu ihnen gefahren. Von da an habe ich mich komplett von meinen Eltern entfernt. Im Erwachsenenalter hat mich das befreundete Paar dann sogar adoptiert.


Heute können Sie über all diese schlimmen Erfahrungen sprechen. Wie haben Sie das geschafft?

Es war viel harte Arbeit, bis ich darüber sprechen konnte. Ich habe auch eine lange Therapie gemacht. Denn ich hatte gemerkt, ich bin meinen Eltern schon auch ähnlich. Das war die härteste Erkenntnis für mich. Ich hatte viel Aggression in mir. Bei meinem Vater hatte ich gesehen, wie aus einem Opfer ein Täter wurde. Ich selbst war auch knapp davor, und das wollte ich nicht. Heute geht es mir sehr gut. Für mich sind all die Erfahrungen ein Teil von mir und ich habe meinen Eltern verziehen. Ich habe auch viele gute Erinnerungen an sie: Sie waren beide sehr humorvoll.


Wie kann man Menschen verzeihen, die einen als Kind geschlagen haben, oder tatenlos dabei zugesehen haben?

Das ist für Außenstehende schwer nachzuvollziehen und mir wurde auch schon vorgeworfen, dass ich Gewalt verherrliche. Aber das tue ich ganz und gar nicht – im Gegenteil: Ich nehme mich der Gewalt an und widme mich ihr. Ich denke nicht, dass Verdrängung etwas bringt. Die Erinnerungen an traumatische Erfahrungen kriechen durch die kleinsten Ritzen wieder in unser Leben. Man muss sich ihnen stellen. Ich konnte sowohl mit meiner Mutter als auch mit meinem Vater vor ihrem Tod sprechen. Sie waren zwar nicht einsichtig, aber da ist kein Hass mehr in mir, und das ist auch gut so. Denn Hass führt zu nichts, schon gar nicht zu Selbstliebe, und das ist das Wichtigste: Dass man sich selbst lieben kann.

Zur Person:

Elke Winkens wurde in jungen Jahren als Tanzmariechen (Karnevalstanz) deutsche Meisterin. Es folgten zahlreiche Tanz- und Theaterproduktionen in Deutschland, bevor sie an die Studio Center School nach London und die Musical School am Theater an der Wien ging. Ihr Kinodebüt hatte Winkens 1998 in einer Hauptrolle in „Helden in Tirol“. Im Fernsehen gelang ihr der Durchbruch mit der Krimiserie „Kommissar Rex“.

Der Spielfilm „Wie man normal ist und die Merkwürdigkeiten der anderen Welt“ von Regisseur und Drehbuchautor Florian Pochlatko feierte am 16. Februar 2025 im Rahmen der 75. Internationalen Filmfestspiele Berlin Premiere. Elke Winkens spielt darin die Mutter Elfie, deren Tochter Pia nach einem einjährigen Aufenthalt in der Psy-chiatrie zurück nach Hause kehrt und sich dort komplett von der eigenen Familie entfernt. Der Kinostart in Österreich ist für den 19. September 2025 geplant.
 

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