Mit SOS-Kinderdorf verbindet man hauptsächlich die Unterbringung von Kindern in einem Dorf. Dabei ist das Spektrum viel breiter. Welche Angebote hat SOS-Kinderdorf heute?
Hauser: 70 Jahre nach unserer Gründung gibt es eine große Angebotsbreite. Sie hat sich entlang der Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen entwickelt. Wir nennen das "Passgenauigkeit". Daran arbeiten wir sehr intensiv. Neben den SOS-Kinderdorf-Familien gibt es Kinderwohngruppen, Krisenplätze, wo Kinder nur kurze Zeit bleiben, und dann als breites Feld, das erst in den letzten Jahrzehnten entstanden ist, die mobile Unterstützung von Familien. Das sind so genannte familienstärkende Programme. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter besuchen im Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe Familien, in denen die Gefahr besteht, dass ihre Kinder nicht gut betreut werden können. Diese Familien werden unterstützt und begleitet.
Ist es generell ein Ziel, die Kinder in ihren Familien zu halten – auch wenn das oft schwierig ist?
Hauser: Ja, unser erstes Ziel ist, dass die Kinder bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen können. Es sagen uns ja auch die Kinder, dass sie am liebsten bei ihren Eltern zu Hause sein möchten. Manchmal geht es eben nicht, aber auch dann wird der Kontakt zum Elternhaus nicht abgebrochen. Eine der vier Säulen der Arbeit von SOS-Kinderdorf heißt „Zusammenarbeit mit der Herkunftsfamilie“. Selbst wenn die Kinder bei uns leben, hat die Zusammenarbeit mit den Eltern stets einen hohen Stellenwert. Und sollte das nicht möglich sein, dann ist sichergestellt, dass die Eltern wertschätzend thematisiert werden. Die Kinder können immer über sie reden.
Gibt es Kinder, die den Kontakt zu den Eltern nicht wollen oder verweigern?
Fryd: Ja, schon. Ich habe bei meiner Arbeit in einer Kinderdorf-WG beide Seiten. Vergangenes Jahr konnten wir zwei Brüder wieder zu Hause unterbringen, das war sehr schön. Wir haben auch Jugendliche, die mit 16 merken, es ist besser, wenn ich in Richtung betreutes Wohnen gehe und eine Lehre oder eine Ausbildung mache. Der Fokus liegt dann nicht mehr darauf, dass die Jugendlichen zu ihren Eltern zurückgehen, sondern dass sie ihr Leben eigenständig führen können.
Warum kommen Kinder überhaupt in die Obhut von SOS-Kinderdorf?
Hauser: Formal ist der häufigste Grund die mangelnde Erziehungskompetenz der Eltern. In vielen Fällen steckt dahinter eine psychische Erkrankung eines Elternteils, oft verknüpft mit beruflichen Schwierigkeiten. Da ist sehr schnell auch das Thema Armut da. Das beschäftigt uns vor allem in der mobilen Arbeit. Kinderarmut ist nach wie vor ein großer Faktor. Die Gesetzeslage trägt derzeit nicht zur Bekämpfung von Kinderarmut bei. Familien, die es ohnehin schon schwer haben, werden es noch schwerer haben.
Wird sich das durch die Reform der Sozialhilfe, die die Bundesregierung im Frühjahr beschlossen hat, noch verschärfen?
Hauser: So genannte Risikofamilien sind Mehrkindfamilien und Alleinerziehende. Das sind genau die beiden Gruppen, die von der Reform der Sozialhilfe (bisher Mindestsicherung, Anm.) betroffen sind.
Heißt das, der Bedarf an Unterstützung für solche Familien wird steigen?
Hauser: Davon ist auszugehen.
Gibt es dafür die Kapazitäten?
Hauser: Wir haben jede Woche neue Ideen, wie man helfen kann. Die Planung erfolgt im Dialog mit den Auftraggebern und Partnern, in der Regel die Kinder- und Jugendhilfe in den Bundesländern. Und wir müssen die Entwicklung der Spenden berücksichtigen.