Das Magazin von SOS-Kinderdorf

"Die Beziehung ist das Wichtigste"

So wie sich die Gesellschaft ändert, ändern sich auch die Anforderungen an SOS-Kinderdorf. Geschäftsführerin Elisabeth Hauser und Pädagoge Thomas Fryd sprachen mit GERALD MACKINGER über die Rolle der Eltern für betreute Kinder – und Armut, die nicht sein müsste.

Autor: Gerald Mackinger
ist Journalist bei der Austria Presse Agentur (APA) und leitet dort das Wien-Resort.

Elisabeth Hauser und Thomas Fryd (links) im Gespräch mit Gerald Mackinger: "Wir haben jede Woche neue Ideen, wie man helfen kann."

Mit SOS-Kinderdorf verbindet man hauptsächlich die Unterbringung von Kindern in einem Dorf. Dabei ist das Spektrum viel breiter. Welche Angebote hat SOS-Kinderdorf heute?

Hauser: 70 Jahre nach unserer Gründung gibt es eine große Angebotsbreite. Sie hat sich entlang der Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen entwickelt. Wir nennen das "Passgenauigkeit". Daran arbeiten wir sehr intensiv. Neben den SOS-Kinderdorf-Familien gibt es Kinderwohngruppen, Krisenplätze, wo Kinder nur kurze Zeit bleiben, und dann als breites Feld, das erst in den letzten Jahrzehnten entstanden ist, die mobile Unterstützung von Familien. Das sind so genannte familienstärkende Programme. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter besuchen im Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe Familien, in denen die Gefahr besteht, dass ihre Kinder nicht gut betreut werden können. Diese Familien werden unterstützt und begleitet.

Ist es generell ein Ziel, die Kinder in ihren Familien zu halten – auch wenn das oft schwierig ist?

Hauser: Ja, unser erstes Ziel ist, dass die Kinder bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen können. Es sagen uns ja auch die Kinder, dass sie am liebsten bei ihren Eltern zu Hause sein möchten. Manchmal geht es eben nicht, aber auch dann wird der Kontakt zum Elternhaus nicht abgebrochen. Eine der vier Säulen der Arbeit von SOS-Kinderdorf heißt „Zusammenarbeit mit der Herkunftsfamilie“. Selbst wenn die Kinder bei uns leben, hat die Zusammenarbeit mit den Eltern stets einen hohen Stellenwert. Und sollte das nicht möglich sein, dann ist sichergestellt, dass die Eltern wertschätzend thematisiert werden. Die Kinder können immer über sie reden.

Gibt es Kinder, die den Kontakt zu den Eltern nicht wollen oder verweigern?

Fryd: Ja, schon. Ich habe bei meiner Arbeit in einer Kinderdorf-WG beide Seiten. Vergangenes Jahr konnten wir zwei Brüder wieder zu Hause unterbringen, das war sehr schön. Wir haben auch Jugendliche, die mit 16 merken, es ist besser, wenn ich in Richtung betreutes Wohnen gehe und eine Lehre oder eine Ausbildung mache. Der Fokus liegt dann nicht mehr darauf, dass die Jugendlichen zu ihren Eltern zurückgehen, sondern dass sie ihr Leben eigenständig führen können.

Warum kommen Kinder überhaupt in die Obhut von SOS-Kinderdorf?

Hauser: Formal ist der häufigste Grund die mangelnde Erziehungskompetenz der Eltern. In vielen Fällen steckt dahinter eine psychische Erkrankung eines Elternteils, oft verknüpft mit beruflichen Schwierigkeiten. Da ist sehr schnell auch das Thema Armut da. Das beschäftigt uns vor allem in der mobilen Arbeit. Kinderarmut ist nach wie vor ein großer Faktor. Die Gesetzeslage trägt derzeit nicht zur Bekämpfung von Kinderarmut bei. Familien, die es ohnehin schon schwer haben, werden es noch schwerer haben.

Wird sich das durch die Reform der Sozialhilfe, die die Bundesregierung im Frühjahr beschlossen hat, noch verschärfen?

Hauser: So genannte Risikofamilien sind Mehrkindfamilien und Alleinerziehende. Das sind genau die beiden Gruppen, die von der Reform der Sozialhilfe (bisher Mindestsicherung, Anm.) betroffen sind.

Heißt das, der Bedarf an Unterstützung für solche Familien wird steigen?

Hauser: Davon ist auszugehen.

Gibt es dafür die Kapazitäten?

Hauser: Wir haben jede Woche neue Ideen, wie man helfen kann. Die Planung erfolgt im Dialog mit den Auftraggebern und Partnern, in der Regel die Kinder- und Jugendhilfe in den Bundesländern. Und wir müssen die Entwicklung der Spenden berücksichtigen.

Die Zusammenarbeit mit den Eltern der fremdbetreuten Kinder sei enger geworden, sagt Geschäftsführerin Elisabeth Hauser.

Wohin entwickeln sich die pädagogischen Konzepte von SOS-Kinderdorf?

Hauser: Primär ist die Zusammenarbeit mit den Eltern enger geworden. Daraus resultieren auch immer mehr begleitete Rückführungen in die Herkunftsfamilien.

Fryd: Ich arbeite in einer Burschen-WG, da ist das Thema Digitalisierung sehr spürbar. Die Jungs sind da nicht ausreichend geschützt. Die meisten hängen viel am Handy, man weiß nicht, mit wem sie in Kontakt sind. Gerade in diesem Bereich machen wir laufend Schulungen, um auf Veränderungen reagieren zu können.

Das heißt, Verbote bewirken nichts?

Fryd: Nein, denn die Jugendlichen sind supergescheit darin, uns auszutricksen. Man kann das Handy abdrehen oder das WLAN abschalten, aber dann organisieren sie sich das irgendwie anders. Ich finde es besser, mit ihnen zu reden. Den Jugendlichen fehlt der Filter. Wir haben Burschen, die schreiben mit 400 Leuten in irgendeinem Gruppenchat. Da weiß man selber nicht: Wer steckt da dahinter? Es ist besser, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, als zu versuchen, ihnen den Online-Zugang zu entziehen.

Hat diese Möglichkeit der Kommunikation den Kontakt zu den Eltern verändert?

Fryd: Der Kontakt ist grundsätzlich immer möglich – außer es gibt einen konkreten Anlass, warum dieser nicht stattfindet. Generell ist es ja zu begrüßen, dass die Jugendlichen den Eltern schreiben. Die Mama ist immer noch die Mama und der Papa ist immer noch der Papa. Die Eltern haben mehr Einfluss als wir Betreuer.

Hauser: Was für dich schon ganz normal ist, das war früher eine ganz große Aufregung. Als die Handys in die Hände von Kindern kamen, hat sich völlig verändert. Früher war ganz klar beschrieben: Das Kind darf drei Mal in der Woche Kontakt haben mit der Mama oder dem Papa, Telefonate finden nur in Begleitung eines Betreuers von dann bis dann statt. Das ist heute unmöglich, und dieser Wandel ist ganz schnell gegangen.

Fryd: Es gibt Eltern, die wirklich gut mit uns kooperieren, dann gibt es auch schwierigere Fälle – das überträgt sich natürlich auf die Kinder. Da es ja gerichtlich angeordnete Fremdunterbringungen gibt, wird es auch immer Eltern geben, die das nicht verkraften. Es ist seht wichtig, dass es Kolleginnen und Kollegen gibt, die mit den Eltern arbeiten. Das ist bei SOS-Kinderdorf der Fall.

Hauser: Man kann den Kontakt zu den Eltern beschränken, man kann die Handys wegnehmen – oder wir stellen die Beziehung in den Vordergrund. Das ist ganz viel Kommunikation auf Augenhöhe, man spricht mit den Kindern darüber, wie sie mit dem Loyalitätskonflikt zwischen Eltern und Betreuern umgehen können. Das Kind darf sagen, dass es lieber zu den Eltern möchte, auch wenn das oft nicht geht. Es muss das nicht mit sich im Stillen ausmachen.

Thomas Fryd setzt auf offene Gespräche mit den Burschen in seiner WG.

Fryd: In meiner Burschen-WG ist der Jüngste 13 und der älteste 17. Denen kann man schon sagen: Ihr seid nun einmal hier – wie arbeiten wir zusammen? Da ist die Beziehung das Wichtigste. In den WGs arbeiten wir mit einem „Bezugsbetreuersystem“, jeder Bursch hat zwei Betreuer. Wir setzen uns regelmäßig mit ihnen zusammen und reden darüber, welche Entscheidungen anstehen und wo der Weg hinführt.

Wie lange kann man in so einer WG bleiben?

Fryd: Prinzipiell endet die Kinder- und Jugendhilfe mit 18. Hauser: Man kann maximal bis 21 verlängern. Das ist ein großes Thema für uns – eine Kann-Bestimmung im Kinder- und Jugendhilfegesetz, das jetzt noch dazu in die Kompetenz der Länder übergeht. Die jungen Erwachsenen müssen die Verlängerung alle drei Monate selber neu beantragen und kriegen sie immer nur dann, wenn sie eine defizitäre Entwicklung beschreiben: Ich kann die Ausbildung noch nicht fertig machen, ich bin persönlich noch nicht so weit … Wir investieren dann oft Spendenmittel, um sie weiter zu betreuen. Wir stellen die Jugendlichen nicht von heute auf morgen auf die Straße.

Fryd: Wir helfen den Jugendlichen, eine Lehrstelle zu suchen, aber wir müssen sie vor allem darauf vorbereiten, auf eigenen Beinen zu stehen.

Was könnte die Politik tun, um die Situation von Familien zu verbessern und ihre Arbeit zu erleichtern?

Hauser: Zuerst einmal wahrnehmen, dass es Kinder und Jugendliche gibt, die Unterstützung brauchen. Es kostet viel Energie, den Fokus auf diese Gruppe zu lenken. Es steht uns zu, als eines der reichsten Länder der Welt Hilfe zu leisten. Jedes Kind hat die gleichen Rechte, egal, woher es kommt, und egal, wer seine Eltern sind. Es geht darum, Bildungschancen zu erhöhen und Armut nicht zu verstärken, sondern zu bekämpfen. Wenn es in Österreich Armut gibt, nimmt das jemand bewusst in Kauf.

Fryd: Ich würde mir speziell für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge wünschen, dass Asylverfahren schneller durchgeführt werden. Und auch, dass sie eine Ausbildung machen können. Es ist schrecklich, wenn ein 16-, 17-jähriger Bursch zu Hause sitzt und nichts machen kann. Der ist motiviert und wird ausgebremst.

Ist es für SOS-Kinderdorf schwierig, Personal zu finden?

Hauser: Wir haben 1.700 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, der Großteil davon im pädagogischen Bereich. Ich denke, wir sind ein attraktiver Arbeitgeber, gerade weil uns Beziehung und Professionalität sehr wichtig sind. Unsere Pädagoginnen und Pädagogen müssen auch was aushalten. Wir investieren in Mentoring und in Onboarding-Maßnahmen, sodass der Realitätsschock in einen Lernprozess verwandelt wird.

Fryd: Es gibt bei SOS-Kinderdorf viel Struktur und eine gute Organisation, das ist wichtig für mich. Ich kann mich auch gut mit dem Konzept identifizieren. Und ich finde es toll, dass wir viele Fortbildungen machen können.

Hauser: Nicht so leicht tun wir uns damit, SOS-Kinderdorf-Mütter und -Väter zu finden. Wir könnten mehr Familien gründen, wenn wir mehr hätten. Wir haben das Berufsbild weiterentwickelt. Eine SOS-Kinderdorf-Familie arbeitet in einem Team aus Fachkräften. Die SOS-Kinderdorfmutter lebt in der Familie. Wir tun alles, um diese Betreuungsform, die Kindern das Aufwachsen in einer familienähnlichen Struktur ermöglicht, zu erhalten.
 

Zu den Personen:

Elisabeth Hauser ist – gemeinsam mit Nora Deinhammer und Christian Moser – Geschäftsführerin von SOS-Kinderdorf Österreich. Die Pädagogin ist seit über 20 Jahren in unterschiedlichen Funktionen für das SOS-Kinderdorf im Einsatz.

Thomas Fryd arbeitet als Sozialpädagoge und betreut seit rund zwei Jahren Kinder und Jugendliche in einer SOS-Kinderdorf-Wohngruppe in Wien.

Zahlen & Fakten

Die Anzahl der durch SOS-Kinderdorf betreuten Kinder und Jugendlichen

Kinder und Jugendliche leben
in SOS-Kinderdorf-Familien bzw. in Wohngruppen

Kinder und Jugendliche leben
in mobilen Unterstützungsangeboten

300
in SOS-Kinderdorf-Familien

150
in Eltern-Kind-Wohnen

11
in Gastfamilien

539
in Jugendwohnen

411
in Kinderwohngruppen

68
in Krisen-Wohngruppen

58
in "passgenauen" Hilfen
 

1.691
besuchten unsere Ambulatorien

985
betreut durch die mobile Familienarbeit

285
unterstützt durch Krisendienste

129
in Anlauf- und Nachbetreuungsstellen

87
Kinder in SOS-Kindergärten

40
Jugendliche in Arbeits- und Bildungsprojekten

82.330

Anfragen und Beratungen (telefonisch und online) und 808.384 Homepagezugriffe zur Informationsbeschaffung zählte das Team der Notrufnummer 147 Rat auf Draht

3.348

Mal wurde die SOS-Kinder. Welt besucht. (Entwicklungsraum für Kinder und deren Angehörige aus Flüchtlingsheimen)

Schreiben Sie uns!

Wir freuen uns über Ihre Meinung! Schreiben Sie uns Ihren Leserbrief an salto@sos-kinderdorf.at.
(Mit der Einsendung stimmen Sie einer Veröffentlichung im nächsten Salto-Magazin zu.)