Globale Studie

Millionen Kinder könnten bei ihren Familien bleiben, wenn Unterstützung verbessert wird

Millionen von Kindern erleben weltweit die schmerzhafte Trennung von ihren Familien. Das hat nicht nur negative Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder, sondern schadet auch ganzen Gesellschaften über Generationen hinweg. SOS-Kinderdorf International präsentiert die erste globale Studie zu den Ursachen dahinter und ruft Entscheidungsträger*innen zu Maßnahmen auf.

 

Weltweit wachsen geschätzte 220 Millionen Kinder ohne elterliche Fürsorge auf oder sind davon bedroht, sie zu verlieren. Wenn Kinder nicht mehr bei ihrer Familie aufwachsen können, verletzt das ihr Recht auf elterliche Fürsorge. Das wirkt sich nachweislich negativ auf die Entwicklung und das Wohlbefinden der Kinder aus. Unzureichende Fürsorge für Kinder und Jugendliche hat langfristige – sogar generationenübergreifende – physische und mentale Auswirkungen. Ohne elterliche Fürsorge steigt auch das Risiko für Ausbeutung. Kinder werden vermehrt Opfer von Kinderarbeit, Rekrutierung in bewaffnete Streitkräfte, Gewalt und sexuellem Missbrauch.

 

SOS-Kinderdorf International hat nun in einer ersten globalen Studie die Ursachen untersucht. Die Forschung mit direkter Beteiligung von über 500 Kindern sowie Hunderten von jungen Menschen, Erwachsenen, Fachkräften und Politikexpert*innen aus verschiedenen Regionen hat wertvolle neue Erkenntnisse über die Dynamiken hinter der Trennung von Kindern und Familien hervorgebracht. Wissenschaftler*innen hatten dafür über 15.000 Studien systematisch überprüft sowie Fallstudien in insgesamt acht Ländern – Dänemark, Elfenbeinküste, El Salvador, Indonesien, Kenia, Kirgisistan, Libanon und Uruguay – durchgeführt. Diese Studie ermöglicht erstmals die katastrophalen Auswirkungen besser zu verstehen und Wege aufzuzeigen, wie solche Trennungen verhindert werden können.

Die wichtigsten Ergebnisse

Die Studie hat drei Hauptfaktoren identifiziert, die zu Trennung von Familien führen können:

  • Familiär – u.a. häusliche Gewalt, Tod eines Elternteils, Behinderung und Drogenmissbrauch
  • Gesellschaftlich – u.a. geschlechtsspezifische Gewalt, wirtschaftliche Not, kulturelle Normen und Diskriminierung, geringes Bewusstsein für Kinderrechte
  • Systemisch – u.a. schwache oder unkoordinierte Sozialschutzsysteme und Entscheidungsfehler in Kinderschutzsystemen

 

Die Forschung zeigt: Es sind weltweit die gleichen Faktoren, die zum Verlust der elterlichen Fürsorge führen, unabhängig vom Wohlstand oder der Sozialstruktur eines Landes. Die Faktoren treten oft in Kombination auf, wobei sich die Auswirkungen im Laufe der Zeit verstärken, wenn sie nicht angegangen werden. Erfolgreiche Maßnahmen, um Trennungen entgegenzuwirken, müssten demnach auf die vielen verschiedenen Ursachen zugeschnitten sein. Zudem hängen Trennungen weniger mit der Liebe der Eltern oder Bezugspersonen zu ihren Kindern zusammen, sondern eher mit den Ressourcen, die ihnen zur Bewältigung von Herausforderungen zur Verfügung stehen.

 

Gewalt – in der Familie und in der gesamten Gesellschaft – ist ein besonders starker Faktor, der das Risiko erhöht, dass Kinder ohne elterliche Fürsorge aufwachsen. Von den 228 Fachleuten, die an der Online-Umfrage teilnahmen, waren mehr als 40 Prozent der Meinung, dass Kinder häufig aufgrund von häuslicher Gewalt aus ihren Familien genommen würden.

 

Eine weitere große Erkenntnis der Studie: Zahlreiche Trennungen könnten vermieden werden, wenn Familien systematisch unterstützt würden. Schwache Sozialschutzsysteme erhöhen das Risiko erheblich, dass Kinder in alternative Betreuung gegeben werden.


Unsere Ergebnisse zeigen, dass durch eine Kombination von Faktoren viele Kinder unnötig in alternative Betreuung gegeben werden. Ursachen sind unter anderem gesellschaftliche Einflüsse wie Armut und intergenerationelle Gewalt, denen Familien ausgesetzt sind, außerdem die begrenzten Fähigkeiten einiger Eltern, sich angemessen um ihre Kinder zu kümmern und die Mängel in den nationalen Kinderschutzsystemen.

Chrissie Gale
Leiterin der Mehrländerstudie

 

Der Teufelskreis familiärer Trennungen

Wenn belastende Ereignisse wie Krankheit oder Arbeitsplatzverlust Familien treffen, wird ihre Bewältigungsfähigkeit getestet. Risikofaktoren wie Gewalt, Diskriminierung, Armut oder Migration liegen oft außerhalb ihrer Kontrolle und stammen aus dem gesellschaftlichen und systemischen Umfeld. Unzureichender sozialer Schutz und fehlende Unterstützung verschärfen die Situation.

Diese Faktoren erhöhen den Druck auf Familien und das Risiko, dass Beziehungen zerbrechen. Kinderschutzsysteme müssen dann eingreifen, aber Entscheidungen werden oft durch fehlende Ressourcen und Vorurteile beeinträchtigt. Dies führt zu vermeidbaren Trennungen von Kindern und Familien und einem Teufelskreis, in dem belastende Ereignisse sich wiederholen.

Weltweit kämen Sozialsysteme ihrem Auftrag nicht nach, dem gegenzusteuern und Familien systematisch zu unterstützen. Chrissie Gale sagt: „Es gibt internationale Richtlinien, nach denen Staaten und Organisationen verpflichtet sind, die Ursachen für Familien-Trennungen zu bekämpfen. Unsere Forschung zeigt, dass diese nicht vollständig eingehalten werden.“ Laut der Forschung werden Trennungsentscheidungen nicht immer im besten Interesse der Kinder getroffen, was zu unnötigen Trennungen führen kann.

 

Es gibt internationale Richtlinien, nach denen Staaten und Organisationen verpflichtet sind, die Ursachen für Familien-Trennungen zu bekämpfen. Unsere Forschung zeigt, dass diese nicht vollständig eingehalten werden.

Chrissie Gale

 

 

Betreuungssysteme an den Bedürfnissen von Kindern ausrichten

SOS-Kinderdorf fordert Regierungen und Institutionen weltweit auf, Investitionen in präventive Kinderschutzsysteme – einschließlich Anti-Gewalt- und Elternprogramme – sowie in Sozialsysteme deutlich zu erhöhen. Um Trennungen an den Wurzeln zu packen, wird empfohlen, dass inklusive Unterstützungsangebote für Familien ausgebaut werden und ein sektorübergreifender Ansatz zur Integration von Betreuungs- und Unterstützungssystemen in Bereichen wie Kinderschutz, Sozialschutz, Bildung, Gesundheit, soziale Dienste und Justiz verfolgt werden. Außerdem müsse für Kinder, die nicht bei ihren Eltern leben können, sichergestellt sein, dass Betreuungssysteme an den Bedürfnissen der Kinder ausgerichtet sind und neuste Standards sowie bewährte Methoden umsetzen.

 

Drei-Säulen-Ansatz zur Bekämpfung der Ursachen von Trennung von Kindern und Familien:

  • Verbesserung präventiver Kinderschutzmaßnahmen
  • Ausbau der inklusiven Unterstützungsangebote für Familien
  • Ganzheitlicher Zugang zu Betreuung und Unterstützung

 

Durch die Priorisierung von Betreuungs- und Unterstützungssystemen, können Familien in ihrer Fürsorgerolle gestärkt und ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber sozialen und wirtschaftlichen Risiken erhöht werden. Dies kann wiederum bewirken, dass das Recht von Kindern in einer sicheren, stabilen und fürsorglichen familiären Umgebung aufzuwachsen, aufrechterhalten wird.

 

Österreich hinkt bei Forschung hinterher

Wie sich die Situation in Österreich darstellt, ist leider unklar. „Wir sehen in unserer Praxis in der Betreuung von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien viele Faktoren, wie zum Beispiel Überforderung, (psychische) Erkrankung, Straffälligkeit, die zu Vernachlässigung oder Gewalt in Familien und in weiterer Folge dazu führen können, dass Kinder von ihren Familien getrennt aufwachsen müssen“, erklärt Moser. „Leider gibt es in Österreich aber keine bundesweiten empirischen Daten und keine ergänzende qualitative Forschung zu diesen Ursachen für Belastungen bzw. das Auseinanderbrechen von Familien.“ Es sei nicht nur bedauerlich, sondern auch unverantwortlich im Sinne eines guten Aufwachsens aller Kinder und Jugendlicher in Österreich, hier nicht endlich Maßnahmen zu setzen, um eine umfassende Kinder- und Jugendforschung in Österreich zu etablieren und Antworten auf viele Fragen der Kinder- und Jugendhilfe und damit zum Kinderschutz zu bekommen.

 

Wir müssen professionell und zielgerichtet präventive Maßnahmen setzen, um Familien dahingehend zu unterstützen und zu stärken, dass sie ihren Kindern ein gesundes und sicheres Aufwachsen in einer intakten Familie ermöglichen können. Dazu brauchen wir endlich eine fundierte Grundlagenforschung, damit schwarz auf weiß klar ist, wo und wie bei der Arbeit mit Familien angesetzt werden muss.

Christian Moser
Geschäftsführer SOS-Kinderdorf Österreich

 

„Und das bedeutet natürlich auch, wo mehr finanzielle Mittel zum Schutz von Kindern und Jugendlichen dringend notwendig sind. Das so etwas möglich ist, machen andere Staaten vor, etwa Deutschland mit dem Kinder- und Jugendhilfereport. So etwas brauchen wir auch in Österreich“, erklärt Moser.

 

35 Jahre UN-Kinderrechtskonvention

Das Jahr 2024 markiert das 35. Jubiläum der UN-Kinderrechtskonvention, die das Recht jedes Kindes auf ein Aufwachsen in einer liebevollen und unterstützenden familiären Umgebung festschreibt. Die Studie wird heute, am „Internationalen Tag der Betreuung und Unterstützung“, offiziell bei den Vereinten Nationen in New York vorgestellt. Nähere Infos zur Studie sowie Veranstaltungen hier.

 

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