Reisebericht – 20.02.24

"Entweder du stirbst oder du lebst weiter!"

Unsere Kollegin Christine Weilhartner hat mit vier Kolleg*innen die Ukraine besucht. Sie teilt ihre Eindrücke der Projekt-Reise, die sie tief berührt und sehr demütig machte.

Vier Tage waren wir in der Ukraine. Eine vermeintlich kurze Reise. Aber diese vier Tage waren so unfassbar intensiv auf jeder Ebene, dass es zu einer der eindrücklichsten Reisen wurde, die ich je gemacht habe. Wir haben dabei so viele tolle Menschen getroffen, unglaublich bewegende Geschichten gehört, die engagiertesten und besten Kolleg*innen kennengelernt und auch am eigenen Leib erfahren, wie es sich anfühlt, wenn man um 6 Uhr Früh von einem Raketenalarm geweckt wird. Die Eindrücke und Erlebnisse haben mich tief berührt und sehr demütig gemacht.
 

Ein Land im Krieg

Wir hatten im Vorfeld gut abgewogen, wie gefährlich eine Reise in die Ukraine wäre und welche Reiseroute wir wählen wollten – ausschließlich in die West-Ukraine. Außerdem hatte uns unser Kollege Volodymyr, der bei SOS-Kinderdorf in der Ukraine für die Sicherheit zuständig ist, in einem ausführlichen Security Briefing bestmöglich auf die Situation vor Ort vorbereitet. Aber wie zu erwarten, war es trotzdem im Vorfeld kaum vorstellbar, wie es sich anfühlen würde in einem Land zu sein, in dem Krieg herrscht. Wir traten unsere Reise über Polen an und bereits der Grenzübertritt war abenteuerlich. Er erfolgte nämlich zu Fuß, da die Kontrollen im Auto oft mehrere Stunden Wartezeit mit sich bringen. Auf der anderen Seite der Grenze empfingen uns die ukrainischen Kolleg*innen und auf der Fahrt nach Lemberg bekamen wir durch den einen oder anderen Check-Point entlang der Straße ein erstes Gefühl für die Allgegenwärtigkeit des Krieges.

 

Christine Weilhartner (in grün) mit Geschäftsführerin Nora Deinhammer (links) in einem Reha-Zentrum.

 

Erschütternde Geschichten

In den darauffolgenden Tagen besuchten wir viele verschiedene Nothilfe-Projekte von SOS-Kinderdorf und hörten dabei so viele ergreifende Geschichten, dass ich gar nicht mehr sagen kann, wie oft ich in dieser Zeit Gänsehaut hatte. Zum Beispiel als die junge Mutter Halyna von den ersten Wochen des Krieges berichtete, die sie mit ihrer neugeborenen Tochter am Boden im Gang ihrer Wohnung verbrachte, um im Falle eines Raketeneinschlages zumindest dürftig zwischen den Wänden geschützt zu sein. Oder als die Pflegemutter Nataliia sichtlich gerührt war, als sie sich daran erinnerte, dass sich die Sozialarbeiterin von SOS-Kinderdorf ganze vier Stunden für sie Zeit nahm, um ihre Bedürfnisse zu erheben. Oder als Pflegemutter Viktoria an ihr altes Leben auf ihrer Farm in der Nähe von Odessa denkt: "Alle Probleme, die ich damals hatte, waren keine echten Probleme."

Ausschließlich jede Person, die wir trafen, hatte eine aufwühlende Geschichte zu erzählen. Von Krieg, Flucht und Neubeginn. Stück für Stück setzte sich das Puzzle in unseren Köpfen zusammen, wie unfassbar vielfältig SOS-Kinderdorf seit zwei Jahren in der Ukraine Hilfe leistet. Wie individuell die Kolleg*innen auf die vielen verschiedenen Bedürfnisse der geflüchteten Familien eingehen und wie unsagbar wichtig das für die betroffenen Kinder und Eltern ist.

Dabei haben 70 % unserer ukrainischen Kolleg*innen selbst Fluchtgeschichten. Auch diese teilten sie mit uns. Und ich kann den Respekt gar nicht in Worte fassen, den ich für ihre Stärke und ihre Einsatzbereitschaft empfinde. Obwohl sie selbst Unfassbares erlebt haben, sind sie in dieser schlimmen Situation für andere da – und geben jeden Tag ihr Bestes, um anderen Geflüchteten zu helfen. Pflegemutter Nataliia erzählt uns, dass man die eigene Betroffenheit unserer Kolleg*innen durchaus auch bemerkt – nämlich darin, dass diese nachempfinden könnten, wie es sei, alles zurückzulassen und vor dem Nichts zu stehen. Habe ich schon gesagt, wie oft ich Gänsehaut hatte in diesen Tagen? Die Tage sind wahnsinnig dicht und intensiv – voller berührender Begegnungen, voller Input, voller Programm. Ich habe das Gefühl, ich komme mit dem Verarbeiten aller Eindrücke schier nicht nach.
 

Wenn Raketen zur Normalität werden

Am dritten Tag werden wir um 5.59 Uhr abrupt aus dem Schlaf gerissen. Auf unseren Handys haben wir die Air Alert App aktiviert, und die schlägt jetzt Radau. Und zwar massiv. Parallel dazu setzt der Hotel-Alarm ein. Aus dem Handy und aus dem Gang dröhnen jetzt in ähnlich eindringlicher Bestimmtheit Anweisungen, was zu tun sei. Kernaussage: Bunker aufsuchen. Sofort! Grad mal drei Sekunden wach, konnte ich das überhaupt nicht erfassen. Mit unserem Sicherheitskollegen Volodymyr ist ausgemacht, er beurteilt jeden Air Alert für uns … und da kommt auch schon seine Nachricht auf WhatsApp: "Good morning! Missile atack. You should proceed to the shelter. Some missiles are approaching Kyiv now. Don't panic. Please ask at the reception. They will guide you." Wir sind zwar nicht in Kiew, aber mit einem Raketenangriff scherzt man nicht. Wir packen also das Nötigste und laufen runter in die Hotellobby. Zu Fuß, denn die Lifte sind außer Betrieb. Die Rezeptionistin reagiert gelangweilt, als wir nach dem Bunker fragen. Und wir bekommen einen ersten Eindruck davon, wie normal ein Bombenalarm hier ist. Wie viele Alarme dieser Art muss man erleben, bis sie einen kalt lassen? Bis man sein Leben nicht mehr intuitiv in Sicherheit bringt? Will ich die Antwort wirklich wissen?

 

Bange Stunden im Luftschutzkeller während eines Raketenalarms.


Noch sind wir bei Weitem nicht so abgebrüht. Wo der nächstgelegene Bunker ist, haben wir bereits am Anreisetag inspiziert: Gleich neben dem Hotel ist ein Theater mit massivem Keller, der als Luftschutzbunker genutzt wird. Wir steigen die Steinstiegen runter und kommen in einen großen Raum, der zum Glück viel mehr eingestaubter Theaterkeller ist als das, was ich mir vorher unter Bunker vorgestellt hatte. Abgeschlagene Wände ohne Fenster, keine Heizung, kein Klo. Aber viel Platz und eine heruntergekommene Tribüne als Sitzgelegenheit. So sitzen und stehen wir rum … unsicher, wie das nun alles einzuordnen ist. Außer uns sind nur zwei weitere Männer da. Sonst hat offenbar niemand aus der näheren Umgebung den Weg in den Bunker auf sich genommen. Unsere Handys funktionieren einwandfrei. Manche suchen online nach Infos, andere beginnen, den Theaterkeller zu inspizieren. 

Eine gute Stunde später schreibt uns Volodymyr, dass die Stadt, die wir am Vormittag besuchen wollen, beschossen worden ist. Ich lese die Nachricht, aber mein Hirn kann keine Verknüpfung herstellen. Gebäude, Städte, Regionen sind Ziele von Angriffen. Ich merke, wie all das nur hohle Phrasen sind. Wer von uns weiß schon, was das in der Realität bedeutet?

Unsere ukrainischen Kolleginnen sind in der ganzen Zeit sehr gelassen. Angst scheinen sie keine zu haben. Eher wirken sie zermürbt. Schon wieder eine unterbrochene Nacht. Schon wieder aus dem Bett gerissen, zwei Stunden im Bunker abgesessen. Sie schreiben Nachrichten auf ihren Handys, checken ihre Mails, holen den Laptop raus und nutzen die Zeit um zu arbeiten. Ich weiß nicht, was mich mehr erschüttert. Dass wir gerade in einem Bunker sind weil Raketenalarm herrscht. Oder dass das für die Menschen hier offenbar völlig normal ist.


Es gibt nur zwei Möglichkeiten – entweder du stirbst oder du lebst weiter!


Eine Kollegin bringt es auf den Punkt: "There is only two options – either you die or you continue living." Die Menschen hier leben ihr Leben weiter. Und heute machen sie sich keine Sorgen, dass der Bombenalarm eine reale Gefahr für uns ist. In der Tat ist er das auch nicht. Aber in einigen anderen Städten haben Angriffe stattgefunden. Und einer davon hat ein Menschenleben gefordert. Gegen 8 Uhr verlassen wir den Bunker und kehren ins Hotel zurück.

Neben den vielen erschütternden Geschichten, die wir in den vier Tagen in der Ukraine gehört haben, ist diese absurde Normalität mit das Eindrücklichste, das mich sprachlos zurücklässt. Die groteske Gleichzeitigkeit von Krieg und Alltag. Zu sehen, wie das Leben irgendwie weiter geht – während am anderen Ende des Landes Krieg herrscht. Aber es muss weitergehen. "Either you die or you continue living", habe ich unsere Kollegin Yev immer wieder im Ohr

Eine andere Kollegin erzählt uns, dass Kinder aus der Ost-Ukraine die Geräusche bereits zuordnen können – ob es sich um Kampf-Jets, Raketen oder Drohnen handle. Ich könnte heulen. Das fühlt sich einfach so falsch an. Kein Kind sollte dieses Wissen haben müssen. Für kein Kind sollte das normal sein.

 

Christine Weilhartner (rechts) mit Olha, die mit der Unterstützung von SOS-Kinderdorf ein Fußpflege-Studio eröffnet hat.

 

Demut

Nach vier unglaublich eindrucksvollen und bewegenden Tagen verabschieden wir uns von unseren ukrainischen Kolleg*innen, mit denen wir in so kurzer Zeit so vertraut geworden sind. Wir bedanken uns wieder und wieder bei ihnen – aber ich habe das Gefühl, Worte reichen in so einer Situation nicht aus. Ich hoffe, sie spüren und wissen, wie sehr wir ihren Einsatz und ihre Arbeit bewundern und wie sehr wir ihnen aus ganzem Herzen ALLES GUTE wünschen. Dann gehen wir wieder zu Fuß über die Grenze zurück nach Polen. Am nächsten Vormittag geht plötzlich eine Sirene. Wir schauen irritiert in die Runde. Was ist das jetzt für ein Alarm – hier in Warschau? Da dämmert es uns: Wir haben den Air Alert auf unseren Handys noch an. Das bedeutet – in der Ukraine ist gerade wieder Raketenalarm, mitten um 10.30 Uhr am Vormittag. Uns betrifft er nicht mehr, wir sind in Sicherheit. Aber alle Menschen, die wir in den letzten Tagen kennengelernt haben, betrifft es. Wir hören den Bombenalarm nur auf unseren Handys, für sie ist er Realität. Ich finde es grotesk. Wir waren in der Ukraine, haben all die tollen Menschen dort kennengelernt, Kolleg*innen, Familien. Haben so viele Angebote von SOS-Kinderdorf besucht. Und dann haben wir uns verabschiedet und sind wieder gefahren. Wir sind über die EU-Grenze gefahren und fühlen uns in Sicherheit, während sie geblieben sind. Und nur 300 km entfernt auf der anderen Seite der Grenze der Bombenalarm ihren Alltag einmal mehr unterbricht. Weil sie in einem Land leben, in dem Krieg herrscht. Es ist nur schwer auszuhalten.

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