Interview
– 23.06.17
"Kinder verzeihen nicht, wenn man lügt"
Die TV-Moderatorin Claudia Reiterer hat über ihre Kindheit bei Pflegeeltern in der Steiermark lange geschwiegen. Mit SALTO spricht sie über die Schwierigkeit, den eigenen Rucksack aufzumachen, und darüber, was Familie heute für sie bedeutet.
Wann haben Sie begonnen, über Ihre Kindheit zu sprechen?
Wirklich verarbeitet habe ich meine Kindheit eigentlich erst, als mein Sohn zur Welt kam. Vorher habe ich es lange weggeschoben. Weil mir von klein auf klargemacht wurde, dass Pflegekinder Kinder zweiter Klasse sind. Am Land zumindest war es damals so. Und ich hatte das Gefühl, wenn die Leute das nicht wissen, behandeln sie mich normaler. Und beurteilen mich nach dem, was ich leiste.
Arbeitet man härter, wenn man es im Leben nicht so leicht hat?
Es gibt zahlreiche Untersuchungen, die zeigen, dass jedes dritte Kind, das eine traumatische Kindheit hatte, es trotzdem schafft. Und dass hier die eigene Persönlichkeit ausschlaggebend ist, das heißt, vor allem die Resilienz – also die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen. Ich habe von klein auf sehr viel mit mir selbst geredet. Und ich habe mich einfach nie damit zufrieden gegeben, wenn Leute zu mir sagten: „Aus dir kann nichts werden“ oder „Das kannst du nicht machen.“ Aber so wirklich den Mut zu haben – das habe ich auch erst lernen müssen.
Was ist für Sie heute Familie?
Mein Mann und mein Sohn sind mein fest betoniertes Fundament aus Liebe. Und das Nest, wo ich gerne hinkomme, egal, wie es mir geht. Familie ist nicht umsonst die kleinste Einheit, die über allem steht.
Sprechen Sie mit Ihrem Sohn über Ihre Kindheit?
Ich habe schon sehr früh mit ihm darüber geredet. Und das halte ich für sehr wichtig. Denn Kinder verzeihen eines nicht: Wenn man lügt, was die eigene Familiengeschichte betrifft. Ich glaube, es ist gut, wenn man das von Anfang an erzählt, ohne groß darüber nachzudenken. Denn je länger man wartet, umso schwieriger wird’s. Ich kenne Menschen, die erst mit 17 erfahren haben, dass sie adoptiert sind. Das verzeihen Kinder ihren Eltern nie. Denn du entwickelst ja auch deine Persönlichkeit nach deinen Wurzeln.
Wie wichtig war es für Sie, zu wissen, wo Sie herkommen?
Ich hätte mein Stipendium nicht bekommen, wenn ich meine leibliche Mutter nicht ausfindig gemacht hätte. Das war damals noch gesetzlich so vorgegeben. Ich habe mir gedacht: In Wahrheit ist es eh nicht schlecht, zu wissen, wo man herkommt.
Ich bin mit dem Zug von Graz nach Tirol gefahren und habe meine Mutter um eine Unterschrift gebeten. Das war unsere einzige Begegnung. Da war ich 26. Von ihr habe ich auch erfahren, dass ich fünf leibliche Geschwister habe. Drei davon wohnten in Graz. Ich lebte also seit Jahren in derselben Stadt wie meine Geschwister, ohne es zu wissen. Ich habe dann Kontakt aufgenommen, das war aber alles nicht leicht, denn jedes dieser Geschwister hatte mit seiner eigenen Geschichte zu kämpfen.
Und heute?
Es ist schon ein Rucksack, den man mitträgt. Aber ich kenne so viele Menschen, die noch schwerere Rucksäcke zu tragen haben. Ich glaube, dass es darauf ankommt, ihn aufzumachen und gewisse Sachen auch rauszutun. Als Kind habe ich schon sehr gelitten. Das kann man dann ganz anders reflektieren, wenn man älter ist. Jeder Mensch muss seinen eigenen Weg finden, damit umzugehen. Wichtig ist, sich nicht schuldig zu fühlen.
„Mir wurde von klein auf klargemacht:
Pflegekinder sind Kinder zweiter Klasse.“
Haben Sie sich schuldig gefühlt?
Uns wurde eingeredet, dass wir mit schuld sind an der Situation. Aus dem herauszukommen, ist für ein Kind sehr schwierig. In der Volksschule wurde mit uns Pflegekindern am Anfang gar nicht geredet. Weil die Eltern ihren Kindern gesagt haben, sie sollen sich von uns fernhalten. Natürlich gab es auch Pflegekinder, die auf die schiefe Bahn gekommen sind. Weil sie lange im Heim waren, weil sie nicht genügend betreut waren, oder weil sie in Familien gekommen sind, wo es bereits zehn, zwölf Pflegekinder gab – rein zum Arbeiten. Das war ja damals so üblich. Man ist mit dem LKW, vollgepackt mit Kindern, zu den Bauernhöfen gefahren und hat gefragt: Wer braucht welche? Und dann hat man sie dort ausgeladen.
Wie war die Situation in Ihrer Pflegefamilie?
Ich hatte drei Geschwister. Die leibliche Tochter meiner Pflegeeltern, die schwer behindert war, und zwei Geschwister, die auch Pflegekinder waren. Die Frau von der Fürsorge hat sich hauptsächlich dafür interessiert, ob die Fingernägel geputzt und die Schulhefte ordentlich waren. Und sie hat uns immer vor der Pflegemutter befragt. Manchmal hätte ich was sagen wollen – aber ich habe den strengen Blick meiner Mutter gespürt. Und ich hatte sehr große Angst vor dem Kinderheim. Wir alle wussten: Dort sind so viele Kinder, dort wird es uns auf jeden Fall schlechter gehen.
"Die Frage nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf beantworte ich erst, wenn auch Männer danach gefragt werden."
Wie stehen Sie zur gegenwärtigen Familienpolitik?
Um Kinderarmut und Alleinerzieherinnen kümmert man sich in Österreich auf jeden Fall zu wenig. Es wäre wirklich schön, wenn man in zehn oder 20 Jahren sagen könnte: Es gibt keine armen Kinder mehr in Österreich. Und wenn die Politik nicht nur darüber nachdenken würde, dass Kinder keine Wählerstimmen sind, sondern dass sie die Zukunft dieses Landes bestimmen. Das Schulsystem hat sich aus meiner Sicht sogar verschlechtert. Ich habe das Gefühl, dass auch kluge Kinder heute kaum eine Chance haben – wenn sie keine Eltern haben, die Nachhilfe bezahlen können.
Sie sind weiblich, erfolgreich, haben eine Familie – was ist die nervigste Frage, die man Ihnen stellen kann?
Die Frage nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf, ganz eindeutig. Diese Frage beantworte ich erst wieder, wenn alle erfolgreichen Männer auch danach gefragt werden. Mein Mann ist im vergangenen Jahr kein einziges Mal danach gefragt worden – und war aufgrund des Präsidentschaftswahlkampfes im Dauereinsatz. Ich möchte allen erfolgreichen Frauen zurufen: Bitte beantwortet diese Frage nicht!