Systemsprenger

Kinder, die keiner haben will. Ein System stößt an seine Grenzen.

Publiziert am 24.06.2025

Wir haben mit unseren Expert*innen über das Sprengen von Systemen gesprochen und darüber, was SOS-Kinderdorf für Kinder und Jugendliche fordert, die scheinbar nirgendwo hinpassen. Vielen Dank für die spannenden Einblicke!

Marek Zeliska, Kinderdorfleiter im SOS-Kinderdorf Burgenland
Christian Rudisch, Geschäftsleiter von SOS-Kinderdorf
Peter Pöll, pädagogischer Leiter im SOS-Kinderdorf Vorarlberg


Definition & Einordnung

Was bedeutet der Begriff "Systemsprenger"?

Der Begriff "Systemsprenger" bezeichnet Kinder und Jugendliche, die durch ihr herausforderndes Verhalten als "nicht erreichbar" gelten und durch alle bestehenden Hilfs- und Betreuungssysteme fallen.

Sie wechseln häufig zwischen Wohngruppen, Pflegefamilien, Kliniken und anderen Einrichtungen – ohne langfristig Fuß zu fassen. Der Begriff wurde besonders durch den gleichnamigen Film aus dem Jahr 2019 einer breiten Öffentlichkeit bekannt, wird aber nicht ganz unkritisch gesehen.

Icon einer Sprechblase

"Diese Kinder und Jugendlichen zerstören kein funktionierendes System. Es sind eher gescheiterte Systemprozesse, die dazu führen, dass diese Personen nirgendwo ausgehalten werden."

Marek Zeliska, SOS-Kinderdorfleiter Burgenland

Kritik am Begriff:
Verantwortung liegt nicht beim Kind

Der Begriff "Systemsprenger" ist unter anderem deshalb umstritten, weil er suggeriert, dass das Problem beim Kind oder Jugendlichen liegt – und nicht bei den strukturellen Defiziten im Hilfesystem. Es handelt sich nicht um Kinder, die das System sprengen – sondern um Kinder, die vom System nicht gehalten werden konnten.

Peter Pöll, pädagogischer Leiter beim SOS-Kinderdorf Vorarlberg, erklärt:

"Es hat etwas Abwertendes, Kinder und Jugendliche so zu bezeichnen, weil es impliziert, dass es prinzipiell an ihnen liegt, wenn eine Betreuung nicht funktioniert. Und das entspricht nicht der Wahrheit."

Vielmehr sind es institutionelle Strukturen, starre Regeln und ein Mangel an passgenauer Unterstützung, die zum Scheitern vieler Betreuungssettings führen.

Für Fachleute wie Christian Rudisch, Geschäftsleiter von SOS-Kinderdorf, greift der Begriff zu kurz und manche Biografien machen das deutlich:

"Ein Achtjähriger zum Beispiel hatte schon 13 Stationen hinter sich, als er zu uns kam. Er wurde immer weitergegeben, ohne, dass jemand wirklich an ihn herangekommen wäre."

Diagnose "Systemsprenger"?

Oft kommt die Frage auf, ob es sich bei der Bezeichnung um eine Diagnose handelt, das Systemsprenger-Sein also eine Krankheit sei. Da können wir klar sagen: Nein – "Systemsprenger" ist weder eine Diagnose noch eine Krankheit.

Es ist ein Begriff, der eher ein Systemversagen beschreibt als eine persönliche Fehlfunktion. Entscheidend ist, die Hintergründe zu verstehen – und daraus neue Wege abzuleiten.

Dorfrunde

Podcast-Folge zum Thema "Systemsprenger"

In unserer Podcast-Folge zum Thema sprechen wir mit Peter Pöll, pädagogischer Leiter vom betreuten Wohnen bei SOS-Kinderdorf Vorarlberg, darüber, was hinter dem Begriff "Systemsprenger" steckt und was es tatsächlich braucht, um die so bezeichneten jungen Menschen zu begleiten.

"Symptome"

Zwischen Wut und Rückzug

Kinder und Jugendliche, die als Systemsprenger bezeichnet werden, zeigen oft extreme Verhaltensweisen:

  • Sie entziehen sich wiederholt der Betreuung, sind abgängig oder nicht erreichbar.
  • Sie sind unberechenbar, verbal oder körperlich aggressiv.
  • Sie verhalten sich abwertend und gewalttätig gegenüber ihrem Umfeld.
  • Sie konsumieren Drogen, überschreiten Grenzen.
  • Sie zeigen selbstverletzendes oder -gefährdendes Verhalten.
  • Sie reagieren mit Ablehnung auf Beziehungsangebote.
  • Sie sind sprunghaft, nicht zuverlässig, schwer greifbar.

Diese Symptome entstehen niemals aus dem Nichts – sie sind Ausdruck tiefgreifender Belastungen und früher Traumatisierungen. In der Praxis hat das verschiedenste Folgen für die Jugendlichen:

  • Ein 14-jähriger bleibt 3 Monate in U-Haft, weil es keinen geeigneten Platz für ihn zu geben scheint.
  • Eine Jugendliche bleibt ohne Notwendigkeit über Monate in der Kinder- und Jugend-Psychiatrie, weil es keinen geeigneten Platz für sie gibt.
  • Trotz erforderlicher Fremdunterbringung wird wegen fehlender Plätze weiter ambulant betreut.
  • Nach dem Auslaufen der Kinder- und Jugendhilfe mit der Volljährigkeit, fühlt sich niemand mehr für die*den Jugendliche*n zuständig.

Manche Jugendliche, für die es keine passenden Angebote zu geben scheint, kommen durch ihr ausfälliges Verhalten mit dem Gesetz in Berührung. Erfahren Sie hier mehr zum >>> Thema Jugendkriminalität

Ursachen

Warum wird ein Kind zum Systemsprenger?

Die Lebensgeschichten dieser Kinder sind geprägt von großer Unsicherheit. Häufig haben sie bereits früh in ihrer Kindheit schwere und mehrfache Traumatisierung erlebt und mit schwierigen Lebenssituationen zu kämpfen.

  • instabile Familienverhältnisse
  • psychische Erkrankungen oder Suchtprobleme der Eltern
  • Vernachlässigung, Gewalt oder Missbrauch
  • prekäre Wohnverhältnisse
  • Fluchterfahrungen
  • Bildungsarmut

Die Reaktionen der Kinder – Rückzug, Aggression, Misstrauen – sind verständliche Schutzmechanismen auf eine Welt, die ihnen wiederholt signalisiert hat, dass sie nicht sicher sind. Christian Rudisch beschreibt es so:

"Das sind Kinder, die sehr früh die Erfahrung machen, dass ihre Bedürfnisse entweder übersehen werden oder sie dafür sogar bestraft werden. Wenn dann von Verweigerung oder Verhaltensauffälligkeiten die Rede ist, handelt es sich bei näherer Betrachtung um eine nachvollziehbare Reaktion auf wiederholte Erfahrungen von Unsicherheit, Abwertung und Kontrollverlust."

Wenn Hilfe zu spät kommt

Eine weitere zentrale Ursache für systemsprengendes Verhalten von Jugendlichen ist verspätete Hilfe, die zudem nicht adäquat ist.

"Das Hilfe-System wird ganz oft zu spät eingeschaltet. Es gibt immer wieder Fälle, wo wir vor acht oder zehn Jahren hätten etwas tun müssen" schildert Peter Pöll. Die bestehenden Strukturen in Betreuungseinrichtungen sind für diese jungen Menschen oft zu starr. Feste Essenszeiten, Handyregelungen, Gruppenaktivitäten – all das überfordert Kinder, die nie gelernt haben, in solchen Rahmen zu leben.

Hinzu kommt der übermäßige Druck, Beziehungen aufzubauen. "Unsere Mitarbeiter*innen sind auf Beziehung eingestellt – aber manche Jugendliche können das (noch) nicht. Diese Überforderung führt auf beiden Seiten zu Frustration" so Peter Pöll.

Spenden für SOS-Kinderdorf

Viele junge Menschen haben einen äußerst schweren Start ins Leben. Ihre Chance auf eine glückliche Kindheit und Zukunft ist gefährdet. Helfen Sie mit, Kindern, Jugendlichen und Familien eine Perspektive zu bieten!

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Hilfe & Prävention

Der Schlüssel ist frühe Hilfe.

Ein zentrales Thema ist die Prävention. Schon bei der Geburt eines Kindes müsste Unterstützung beginnen. Peter Pöll bringt es auf den Punkt: „Ein Elternführerschein wäre manchmal hilfreich – viele wissen gar nicht, was sie tun sollen, wenn das erste Kind kommt.“

Frühe Hilfen müssen deutlich präsenter und niedrigschwelliger werden. Auch bei familiären Trennungen müsse genauer hingesehen werden, ergänzt Pöll:

„Was passiert mit den Kindern, wenn sich Eltern trennen? Gibt es genug Angebote zur Begleitung in solchen Krisen oder Trauerprozessen?“

SOS-Archiv
Die Arbeit mit Systemsprengern ist ein ständiger Balanceakt zwischen den Regeln des Hilfssystems und den individuellen Bedürfnissen der Kinder.

Zusammenhalt & Partizipation

Wie kann man „Systemsprengern“ begegnen?

Im Begriff „Systemsprenger“ ist bereits angelegt, dass die aktuellen Rahmenbedingungen nicht geeignet sind, um vereinzelte Jugendliche adäquat zu betreuen. Was es bräuchte, sind an deren Bedürfnisse angepasste Betreuungssituationen, in denen sie mehr Freiraum und Gelegenheiten zur Partizipation und Mitbestimmung bekommen.

Wichtig ist außerdem der Bezug zum Herkunftssystem. Die Eltern sind ein wichtiger Bestandteil im Leben der jungen Menschen und sollten das auch bleiben können.

Für das „System“, das die Kinder „sprengen“, wünscht sich Peter Pöll mehr fachübergreifende Zusammenarbeit. Perspektiven, Expertisen, Ressourcen und Know-how könnten so besser ineinandergreifen und ein besseres Netz bilden. Leopold Auer, pädagogischer Leiter in der Wohngruppe für Mädchen in Graz weiß:

„Systemsprenger sind - ohne es zu wollen – Spezialist*innen, die durch ihr Verhalten Schwächen in der Kinder- und Jugendhilfe aufdecken und uns auffordern kreativer, mutiger, flexibler zu werden – sowohl in den Settings als auch in den pädagogischen Zugängen.“

Auch Einzel- und Gruppensupervisionen für Mitarbeitende sind wichtig, um sie für die speziellen Anforderungen gut zu stärken. Ohne Haltung, Halt und Handwerkszeug läuft man als Einrichtung immer wieder Gefahr, einen Anteil an der „Produktion“ von Systemsprengern zu leisten.

Systemsprenger bei SOS-Kinderdorf

Auch wir haben immer wieder mit Kindern und Jugendlichen zu tun, bei deren Betreuung wir an unsere Grenzen stoßen. Hier heißt es, flexibel und kreativ zu bleiben, um den jungen Menschen jene Unterstützung zu bieten, die sie gerade brauchen.

Wir versuchen für jedes Kind und jeden Jugendlichen passgenaue Angebote zu schaffen. Das kann soweit gehen, dass wir individuelle Betreuungssettings herstellen, in dem nur ein oder zwei Kinder sehr intensiv durch ein Betreuer*innen-Team begleitet werden.

Es kann aber auch bedeuten, dass wir jungen Menschen mehr Freiraum geben müssen, um die Beziehung nicht zusätzlich zu belasten.

Fazit: Es braucht neue Wege, keine neuen Etiketten!

Statt Kinder in Schubladen zu stecken, müssen wir lernen, sie in ihrer ganzen Komplexität zu sehen und ihnen die Unterstützung geben, die sie brauchen. Dazu gehört ein enger Austausch zwischen Kinder- und Jugendhilfe, Schulen, Psychologie und Eltern – vor allem aber der Mut, genau hinzusehen und flexibel zu handeln.

Portraitfoto von Christian Rudisch

Christian Rudisch ist seit 2024 Geschäftsleiter von SOS-Kinderdorf. Davor leitete er das SOS-Kinderdorf im Tiroler Imst. Christian Rudisch ist gelernter Psychotherapeut und Analytiker.

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Gerade die Schwächsten in der Gesellschaft brauchen einen starken Partner. Wir machen uns für Kinder in Not stark und unterstützen auf vielfältige Weise.