Stellungnahme

Zum Ministerialentwurf betreffend Bundesgesetz, mit dem ein Bundesgesetz betreffend Grundsätze für die Sozialhilfe (Sozialhilfe-Grundsatzgesetz) und ein Bundesgesetz über die bundesweite Gesamtstatistik über Leistungen der Sozialhilfe (Sozialhilfe-Statistikgesetz) erlassen werden - GZ.: BMASGK-57024/0002-V/B/7/2018

Sehr geehrte Damen und Herren,

SOS-Kinderdorf betreut als größte private Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung Österreichs 1.800 Kinder und Jugendliche in stationären Angeboten und unterstützt rund 3.000 Familien ambulant oder aufsuchend. Darüber hinaus ist es unser Anspruch, die Einhaltung UN-Kinderrechte einzufordern und Kindern diesbezüglich eine Stimme zu geben. Innerhalb offener Frist geben wir zum im Betreff genannten Gesetzesentwurf daher folgende Stellungnahme ab:
 

1. Allgemeines

Eine bundesweite Vereinheitlichung der Mindestsicherung ist grundsätzlich zu begrüßen. Aus kinderrechtlicher Sicht und in Hinblick auf die Vermeidung von Kinderarmut ist der vorliegende Entwurf allerdings in mehreren Punkten bedenklich und bleibt darüber hinaus aufgrund zahlreicher Kann-Bestimmungen zu unbestimmt.

In Österreich galten im Jahr 2017 rund 324.000 Kinder und Jugendliche unter 19 Jahre als armutsgefährdet. Das entspricht 18 % dieser Altersgruppe, die Tendenz ist steigend. Die Armutsgefährdung verlagert sich seit einigen Jahren zunehmend von den Älteren auf die Jungen. In der Gesamtbevölkerung beträgt die Armutsgefährdungsquote 14,4 %. Kinder und Jugendliche sind somit stärker armutsgefährdet als andere Altersgruppen.

Das Leben von armen und armutsgefährdeten Kindern unterscheidet sich gravierend von Kindern, die in wohlhabenderen Haushalten aufwachsen. Sie wohnen in überbelegten Wohnungen (53 %), die häufig feucht und lärmbelastet sind. 38 % dieser Kinder können an keinen kostenpflichtigen Freizeitaktivitäten (Sport, Musik etc.) teilnehmen, fast 20 % ist aus finanziellen Gründen die Teilnahme an selbst zu zahlenden Schulaktivitäten nicht möglich.

Die individuellen Konsequenzen eines Aufwachsens in Armut sind gravierend, aber auch die daraus resultierenden gesellschaftlichen Folgekosten im Gesundheits- und Sozialwesen sind hoch. Kinder aus einkommensschwachen Haushalten sind öfter krank und in ihrer Entwicklung gehemmt und haben auch als Erwachsene einen deutlich schlechteren Gesundheitszustand als der Bevölkerungsdurchschnitt.

Einkommensunterschiede bedingen in Österreich Bildungsverläufe: 80 % der Kinder aus Familien mit hohen Einkommen besuchen eine AHS Unterstufe, aber nur 19 % der Kinder aus armutsgefährdeten Haushalten. Kinder aus armutsgefährdeten Haushalten sind weniger qualifiziert, haben damit stark verminderte Startchancen und ein hohes Risiko im Laufe ihres Lebens immer wieder erwerbsarbeitslos und auf soziale Unterstützung angewiesen zu sein.

SOS-Kinderdorf möchte darauf hinweisen, dass die beschriebene prekäre aktuelle Lage aus den geltenden Mindestsicherungssystemen der Länder resultiert. Die im Entwurf geplanten Einschnitte werden darüber hinaus zu einem Anstieg der Zahl von in Armut lebenden Kindern führen. Kurzfristige budgetäre Einsparungen werden mittelfristig eine erhöhte Belastung der Gesundheits- und Sozialbudgets der nächsten Jahrzehnte bedingen.

Weiters möchte SOS-Kinderdorf darauf hinweisen, dass die Ursachen von Armut in enger Relation zu jenen Ursachen stehen, die zur Fremdunterbringung bzw. Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe führen. Wie sich in unserer pädagogischen Arbeit zeigt, setzt Armut Kinder und Familien unter Druck und reißt diese oft in einen Teufelskreis aus Überschuldung, Überforderung und Vernachlässigung. Dieser Teufelskreis mündet nicht selten in für die öffentliche Hand sehr teuren Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe.

Diesen ersten allgemeinen Punkt zusammenfassend ist also festzuhalten, dass eine tatsächlich vor Armut schützende Mindestsicherung oder Sozialhilfe mittelfristig für den öffentlichen Haushalt wesentlich günstiger ist, als die Finanzierung der Folgekosten von Kinderarmut. Insofern ist der vorliegende Entwurf nicht nur armuts- und kinderpolitisch, sondern auch budgetpolitisch bedenklich.
 

2. Im Einzelnen

Zu Art I § 1:
SOS-Kinderdorf bedauert, dass die Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung kein Ziel der Sozialhilfe sein soll. Es stellt sich die Frage, welches Instrument dann die entsprechende Aufgabe auch gemäß den Europa 2020 Zielen wahrnehmen wird. Aktuell wird hier eine Maßnahmenlücke vorgezeichnet.

Zu Art I § 2:
Es ist bedauerlich, dass Kosten für gesellschaftliche Teilhabe im Gesetzestext nicht explizit als Bedarf definiert sind und hier den Ländern ein nicht einschätzbarer Spielraum eingeräumt wird. Gerade Kinder leiden unter gesellschaftlicher Ausgrenzung massiv. Wenn man trotz Einladungen zu keiner Geburtstagsfeier geht, weil es peinlich ist, kein Geschenk mitbringen zu können, weil dieses für die Familie nicht finanzierbar ist, hat das zusammen mit anderen ausgrenzenden Situation negative Auswirkungen auf das Wohl des Kindes.

Zu Art I § 4 Abs 1:
Die vorgesehene Restriktion beim Zugang zur Sozialhilfe für neuzugewanderte EU-BürgerInnen durch eine fünfjährige Wartefrist wird sich drastisch auf Kinderarmut auswirken. Es sei als Beispiel eine Familie mit zwei Kindern genannt, in der die Eltern als im Tourismus dringend gebrauchte Hilfskräfte arbeiten. Durch die im Tourismus üblichen Niedrigstlöhne fällt die Familie im Falle von Arbeitslosigkeit nur eines Elternteils mit ihrem Einkommen unter die Armutsgefährdungsschwelle. Saisonbedingte Arbeitslosigkeit beider ergäbe trotz Arbeitslosengeld einen „Aufstockeranspruch“ aus der Sozialhilfe. Dieser entfällt künftig weitgehend und obliegt Einzelfallentscheidungen. Die Familie und besonders die Kinder leben daher in den ersten fünf Jahren ihres Lebens in Österreich immer wieder ungeschützt in Armut. Diese Perspektive wird keinen Pull-Effekt für dringend benötigte touristische Hilfs- und Fachkräfte auslösen, sondern wirkt als Abschreckungsprogramm für verantwortungsvolle Eltern. Die Regelung erzeugt Kinderarmut und ist dadurch kinderrechts- und verfassungswidrig. Auch in Hinblick auf das in der UN-Kinderrechtskonvention verankerte Diskriminierungsverbot, das eine Gleichbehandlung von Kindern unabhängig von Herkunft, Sprache oder Status des Kindes/seiner Eltern vorsieht, ist diese Regelung bedenklich.

Zu Art I § 5 Abs 2 und 3:
Kinder und Jugendliche haben das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard, wenn nötig ist dieser vom Staat durch die Bereitstellung finanzieller und sonstiger Leistungen sicher zu stellen (Art 27 UN-Kinderrechtskonvention) und dies unabhängig von Herkunft, Sprache oder Status des Kindes/seiner Eltern oder seiner Zugehörigkeit zu einer Mehrkindfamilie (vgl. Art 2 UN-Kinderrechtskonvention, Diskriminierungsverbot). Auch eine föderale Kompetenzverteilung darf nicht dazu führen, dass Kinder aufgrund unterschiedlicher Landesgesetzgebungen diskriminiert werden.

Da mit dieser bundesweiten Regelung lediglich Höchstsätze pro Person und Monat vorgesehen werden und es der Landesgesetzgebung unbenommen bleibt, geringere Leistungen vorzusehen oder den Leistungsbezug an weitere Voraussetzungen zu knüpfen, ist eine Gleichbehandlung nicht sichergestellt. Unsachlich und kinderrechtswidrig erscheint zudem die vorgesehene Degression bzw. Deckelung bei Mehrkindfamilien. Unklar bleibt auch, wie die Landesgesetzgebung gemäß § 5 Abs 3 sicherstellen soll, dass die Summe aller Geldleistungen der Sozialhilfe gleichmäßig auf alle unterhaltsberechtigten minderjährigen Personen aufgeteilt wird.

Auch die in § 5 Abs 2 Z 4 und 5 angeführten Kann-Bestimmungen gefährden die bundesweite Gleichbehandlung von Betroffenen und ihren Kindern.

Klar ist, dass die angepeilten Leistungen der monatlichen Sozialhilfe Kinder nicht vor einem Leben in Armut schützen werden. Sie liegen selbst unter Berücksichtigung von Leistungen wie der Familienbeihilfe deutlich unter nach verschiedenen Methoden errechneten Referenzbudgets oder Kinderkosten. Insbesondere Mehrkindfamilien weisen künftig ein noch wesentlich höheres Armutsgefährdungsrisiko auf.

Zu Art I § 5 Abs 6 ff
Die 35%ige Reduktion der Leistungen für Eltern, die weder über einen Pflichtschulabschluss noch über ausreichend Deutsch- oder Englischkenntnisse verfügen, bedingt eine drastische Einkommensreduktion für die gesamte Familie. Kinder sind von der so erzeugten Armutssituation massiv belastet. Die Regelung des sogenannten Arbeitsqualifizierungsmodus, der aber als Einkommensreduktion wirksam wird, ist diskriminierend und kinderrechtswidrig. Die Sprachkenntnisse der Eltern dürfen auch nicht dazu führen, dass das Recht des Kindes auf einen angemessenen Lebensstandard verletzt wird (Art 27 UN-Kinderrechtskonvention).

Zu Art I § 6:
Insbesondere notwendige zusätzliche Leistungen zur Vermeidung besonderer Härtefälle sollten nicht als bloße Kann-Bestimmung normiert werden. Bundeskanzler Kurz erläutert immer wieder: „Sozial ist, was stark macht, nicht was abhängig hält.“ Für Kinder wirkt die geplante Sozialhilfe-Grundsatzgesetz jedoch genau in die gegenteilige Richtung. Ein Aufwachsen in Armut macht nicht stark, sondern zeichnet eine künftige Abhängigkeit von öffentlicher Unterstützung vor. Kinder tragen für die Einkommenssituation ihrer Eltern keine Verantwortung. Trotzdem sind sie überproportional von deren Auswirkungen betroffen.

Gemäß Bundesverfassungsgesetz über die Rechte von Kindern hat jedes Kind Anspruch auf Schutz und Fürsorge, die für sein Wohlergehen notwendig sind, auf bestmögliche Entwicklung und Entfaltung sowie auf die Wahrung seiner Interessen. Bei allen Kindern betreffende Maßnahmen öffentlicher und privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein. Der vorliegende Entwurf bedingt für viele tausend Kinder in Österreich ein Leben in Armut und verletzt damit die Verfassung.

Leider ist der Vorlage wieder einmal keine ausreichende Wirkungsfolgenabschätzung beigelegt. Die Dimension der „Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche“ fehlt in der Bewertung völlig. Insofern ist es SOS-Kinderdorf ein Anliegen, durch diese Stellungnahme genau auf diese zu erwartenden bedenklichen Auswirkungen auf tausende Kinder und Jugendliche in Österreich mit großer Sorge hinzuweisen.

Um Kindern mit Eltern, die alleine nicht für ein ausreichendes Einkommen sorgen können, ein kinderrechtskonformes Aufwachsen zu ermöglichen, braucht es ausreichende Geldleistungen für die Familie, sowie Sachleistungen vor allem zur Deckung des Wohnbedarfs. Aber auch öffentlich finanzierte Dienstleistungen wie ganztägige Kinderbetreuungsplätze für Kinder deren Eltern nicht erwerbstätig sind, die Förderung bieten und Ausgrenzung reduzieren wären hilfreich. Das gilt auch für Therapiemöglichkeiten, die derzeit für einkommensarme Familien unfinanzierbar sind, sowie etwa kostenfreie Transportmöglichkeiten.

Die Abschaffung von Kinderarmut muss das Ziel einer modernen Gesellschaft und ihrer Regierungen sein. Dazu braucht ein umfassendes Maßnahmenpaket entsprechend einer nachhaltigen Wirkungsorientierung. Der vorliegende Entwurf ist diesbezüglich leider ein Schritt in die falsche Richtung.