Der Neurobiologe Gerald Hüther
Im Gespräch

So lernen Kinder mit Begeisterung

Acht Fragen an den Neurobiologen Gerald Hüther im Gespräch über die revolutionäre Kraft des richtigen Lernens.

Frühmorgens begegnen uns Kinder und Jugendliche, die sich mit hängenden Schultern auf den Weg in die Schule machen. Wie können wir die Begeisterung fürs Lernen bei Kindern und Jugendlichen wecken?

Nicht durch Leistungsdruck und das Schüren von Angst, auch nicht durch Belohnungen oder Bestrafungen, sondern indem man Kinder, Jugendliche und Erwachsene einlädt, ermutigt und inspiriert, sich noch einmal als Entdecker und Gestalter, als Forscher und Tüftler auf den Weg zu machen. Am besten gemeinsam mit anderen.

Sie verwenden gerne den Begriff des Bulimie-Lernens. Was können wir uns darunter vorstellen?

Dass Schüler und Auszubildende noch immer wie leere Fässer betrachtet werden, die mit Wissen gefüllt werden müssen. Und dass Schüler, Auszubildende und sogar Studenten ihren Lernstoff nur aufnehmen, um ihn in der nächsten Prüfung wieder auszuspeien und anschließend zu vergessen. Das ist eine Katastrophe. Es muss anders werden, wenn wir die Kreativität, die Entdeckerfreude und die Gestaltungslust der jungen Menschen, die hier heranwachsen, weiter entfalten und mehren wollen.

Welche Kompetenzen werden Kinder und Jugendliche in Zukunft brauchen?

In der alten Industriegesellschaft des vorigen Jahrhunderts sollten die Menschen das, was sie in der Schule gelernt hatten, ein ganzes Leben lang anwenden. In der Wissens- und Ideengesellschaft des 21. Jahrhunderts hat sich dieser Wissenspool enorm erweitert. Jetzt kommt es immer stärker darauf an, neue Herausforderungen annehmen und unbekannte Probleme lösen zu können. Es geht um die Entwicklung von Haltungen und Einstellungen, um die Bereitschaft, sich auf neue Herausforderungen einzulassen.

Vor welchen Herausforderungen stehen Schulen?

Die Schule wird ihre Schüler künftig nicht nur auf die Durchführung von Routinen, sondern in erster Linie auf die Bewältigung von Vielfalt und Offenheit vorbereiten müssen. Damit ändert sich aber schlagartig auch die traditionelle Vorstellung von Bildung und Erziehung.


Neues Wissen und neue Fähigkeiten und Fertigkeiten erwirbt ein Mensch nur dann, wenn es ihn emotional berührt.

Gerald Hüther

 

Wie kann die Hirnforschung insbesondere LehrerInnen, PädagogInnen oder Eltern unterstützen?

Die Hirnforscher haben in den letzten 10 Jahren eine Vielzahl von Erkenntnissen zutage gefördert, wie das Lernen funktioniert. Zum Beispiel arbeitet das menschliche Gehirn nicht wie ein Muskel, den man durch Lernangebote trainieren kann. Neues Wissen und neue Fähigkeiten erwirbt ein Mensch nur dann, wenn es ihn emotional berührt.

Wann sind Bildungsangebote also hirngerecht?

Bildungsangebote für Kinder, Jugendliche sind dann hirngerecht, wenn sie bedeutsam für den Betreffenden sind, wenn etwas "unter die Haut geht" wenn die so gewonnenen Einsichten sich im praktischen Leben als vorteilhaft erweisen.

 

Gerald Hüther
Gerald Hüther ist Neurobiologe, Vorstand der Akademie für Potentialentfaltung und Autor wissenschaftlicher Publikationen.

 

Also müssen Bildungseinrichtungen grundlegend an der Art der Lehre feilen?

Die Frage der Qualität, der Didaktik und Methodik der Wissensvermittlung wird erst dann interessant, wenn die Kinder auch offen für diese Bildungsangebote sind.


Was in unseren Bildungseinrichtungen geweckt werden müsste, ist was schon Saint-Exupery so eindringlich eingefordert hat: Willst Du ein Schiff bauen, rufe nicht die Menschen zusammen um Pläne zu machen, die Arbeit zu verteilen, Werkzeug zu holen und Holz zu schlagen, sondern wecke in ihnen die Sehnsucht nach dem großen, endlosen Meer.

Gerald Hüther


In den SOS-Kinderdorf-Einrichtungen pflegen wir ganz besondere Beziehungen zu unseren Kindern und Jugendlichen. Wie wichtig ist Beziehung beim Lernen?

ErzieherInnen und LehrerInnen müssten Beziehungspersonen sein, die Kinder gerne aufsuchen, wo sie sich sicher und geborgen, unterstützt und wertgeschätzt und natürlich maximal herausgefordert und optimal gefördert fühlen. Entscheidend ist dabei, auch das ist eine wichtige neue Erkenntnis der Hirnforschung, immer die subjektive Bewertung. Kinder brauchen auch Vorbilder, denen sie nacheifern und Ziele, für deren Erreichen es sich anzustrengen lohnt. Und sie brauchen auch Visionen davon, wie ihr Leben gelingen kann.

Biografie

Gerald Hüther, Dr. rer. nat. Dr. med. habil., Neurobiologe. Biologiestudium, Forschungsstudium und Promotion an der Universität Leipzig, Habilitation an der Medizinischen Fakultät der Universität Göttingen. Seit 2015 Vorstand der Akademie für Potentialentfaltung. Autor zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen. Er wuchs in der DDR auf und flüchtete Ende der 70er-Jahre in die damalige BRD. Er lebt in der Nähe von Göttingen, ist zum zweiten Mal verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und drei Enkel.

Buchtipp

Mit Freude lernen - ein Leben lang Weshalb wir ein neues Verständnis vom Lernen brauchen. Sieben Thesen zu einem erweiterten Lernbegriff und eine Auswahl von Beiträgen zur Untermauerung, 2016
ISBN-10: 3525701829
ISBN-13: 978-3525701829

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