Kindheitstrauma

Der Junge, der lautlos weinte

Viele Kinder erleben Schicksalsschläge, bei deren Bewältigung ihnen niemand aus Ihrer Familie helfen kann. Die Gründe dafür sind vielfältig. Wie bei Mika.

Not, Angst, Krankheit, Gewalterfahrungen und Hilflosigkeit – viele Eltern schlittern in Lebenskrisen. Und manche finden ohne professionelle Hilfe nicht mehr heraus. Die Opfer in solchen Situationen sind immer die Kinder und Jugendlichen. Mika war einer von ihnen.

Mika "lernte", dass er nicht willkommen war. Und dass er leise, am besten unsichtbar sein musste, wenn er dem Streit, der Not und der Gewalt entgehen wollte, die in der Familie herrschte.

 

Foto: Bonnie Kittle auf Unsplash.com

Kinder und ihre Rätsel

Eine SOS-Kinderdorf-Mutter erzählte in einem Trauma-Workshop vom verstörenden Verhalten eines ihrer Buben: "Er weint sehr oft, wenn er sich alleingelassen fühlt. Er weint, wenn die anderen spielen, wenn ich ihn ins Bett bringe und er weint, wenn er nachts wach liegt. Aber er weint lautlos. Er hat nur Tränen, keine Stimme. Was kann ich für ihn tun?"
 

Detektivarbeit

Kinder, die in schwierigen und bedrohenden Situationen aufwachsen, finden oft eigenartig anmutende Wege und Verhaltensweisen, die wir seltsam oder störend finden: Rückzug, lügen, stehlen, Selbstverletzungen. In Zeiten großer Not halfen solche und andere Verhaltensweisen den betroffenen Kindern dabei, sich selbst nicht ganz zu verlieren und halbwegs in ihrer schwierigen Situation zu überleben. Das Problem: Viele Kinder verwenden diese Verhaltensweisen auch in der Obhut ihrer SOS-Familie oder eines anderen SOS-Angebots, da sie immer noch Bedrohung fürchten. Die SOS-Mitarbeiter müssen oft Detektivarbeit leisten, um zu verstehen, was sich in den Kindern abspielt.

Im Zuge des Workshops kamen erstaunliche Zusammenhänge ans Licht, die Mikas Verhalten in einem anderen Licht erscheinen ließen:
 

Mika musste unsichtbar werden

Er verbrachte seine ersten vier Lebensjahre in einer Familie, die durch Überforderung, Not und Gewalt geprägt wurde. Er konnte bei seinen Eltern weder Schutz noch Trost finden. Mit dem dramatischen Gefühl von Angst und Hilflosigkeit, das Mika fast täglich erleben musste, blieb ihm nur ein Ausweg: Er musste leise bleiben, sich verstecken und gleichsam unsichtbar werden.

Es war schwer für Mika, wieder zu lernen, einer erwachsenen Person zu vertrauen und zu spüren, dass er geliebt wird, ohne Bedingung, ohne Wenn und Aber. Und er erlebt immer wieder diese Angst: verlassen zu sein, alleine und ungeliebt. Und dann beginnt er wieder zu weinen. Lautlos.

 

Körperliche Nähe gibt Kindern das Gefühl von Geborgenheit.


Im Workshop wurde Mikas SOS-Kinderdorf-Mutter in dem bestärkt, was sie in solchen Situation spontan schon oft getan hatte: Den körperlichen Kontakt suchen, den Buben in den Arm nehmen, streicheln und mit ihm reden. Der Workshop-Leiter, ein erfahrener Traumaexperte, riet ihr auch, ihm einen persönlichen Gegenstand in die Hand zu drücken, zum Beispiel ein Halstuch, durch das er ihre Nähe spüren konnte, wenn ihn die schmerzende Erinnerung wieder übermannte und sie nicht bei ihm war.

Noch ein langer Weg

Mika geht es schon viel besser. Aber er hat noch einen weiten Weg vor sich. Einen Weg, den er dank seiner SOS-Kinderdorf-Mutter nicht alleine gehen muss. Er lernt zu vertrauen, er spürt wie es ist, wenn man geliebt und geachtet wird. Und er muss nur noch selten lautlos weinen.

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