„In wenigen Tagen geht das dritte von der Corona-Pandemie geprägte Schuljahr zu Ende. Hunderttausende Schüler*innen leiden immer noch unter den Belastungen und warten auf Unterstützungen und Therapien. Und gleichzeitig kommt mit der Integration und dem Unterricht für geflüchtete Kinder aus der Ukraine die nächste große Herausforderung auf die Schulen zu“, sagt SOS-Kinderdorf-Geschäftsführer Christian Moser. „Gerade jetzt, wo sich die nächste Corona-Welle aufbaut, ist es höchste Zeit, umfassende Vorbereitungen für den Herbst zu treffen.“ Die Verantwortlichen dürften sich nun nicht in eine Sommerpause zurückziehen, sondern müssten dringend handeln, damit ein Chaos wie in den letzten Jahren vermieden wird. „Uns allen muss klar sein, dass auch in diesem Herbst weder Lockdowns noch Distance Learning, Turn-, Sing- oder Ausflugsverbote auszuschließen sind“, betont Moser.
Obwohl viele Schulen in der Digitalisierung deutlich aufgeholt haben, bleibe das Distance Learning vor allem für jüngere Schüler*innen eine große Strapaze. „Es gab zwar Arbeitsanweisungen, oft aber nur eine Stunde Videokonferenz mit der Klasse“, erklärt Moser. „So bleibt ein enorm großer Aufgabenbereich der Lehrtätigkeit bei den Eltern.“ Manche Eltern könnten dies leisten, sehr viele aber nicht. Im Moment habe man keine große Hoffnung, dass sich daran etwas ändern würde, denn entsprechende Fortbildungen für Pädagog*innen waren freiwillig und wurden nicht intensiv angenommen.
Psychische Belastungen mit langfristigen Folgen
„Quer über alle Altersgruppen hinweg wurden die letzten Schuljahre als extrem belastend wahrgenommen, das bekommen wir täglich bei unserer Notfallhotline Rat auf Draht hautnah mit“, sagt Moser.
Expert*innen warnen seit mindestens eineinhalb Jahren vor den Langzeitfolgen der großen psychischen Belastungen und der daraus folgenden Erkrankungen und trotzdem gibt es kaum Unterstützung.
Christian Moser
Geschäftsführer SOS-Kinderdorf
Die versprochenen Förderstunden in den Schulen fanden mangels Lehrpersonal häufig nicht statt. Die psychosoziale Versorgung in Österreich ist aufgrund eines eklatanten Mangels an Therapieplätzen und Fachärzt*innen unzureichend.
„Das Zusatzbudget von 13 Millionen Euro für die Behandlung belasteter Kinder und Jugendlicher ist kaum ein Tropfen auf den heißen Stein“, so Moser. Mit den angepeilten Therapieplätzen für rund 8.000 Kinder und Jugendliche zwischen 6 und 21 Jahren erreiche man nur 0,57 % der Altersgruppe. Aber auch von den wenigen finanzierten Projekten ist bisher kaum eine Spur in der Praxis angekommen.“
Kinder müssen im Mittelpunkt stehen
„Seit vielen Jahren ist bekannt, dass das österreichische Schulsystem starr und veraltet ist“, sagt Moser. „Die anhaltenden Krisen machen den Reformbedarf nur umso deutlicher. Wir müssen jetzt handeln, um etwas zu ändern und endlich das Kind in den Mittelpunkt des Systems Schule zu stellen.“ Bürokratie, Lehrpläne, Noten, darum gehe es in erster Linie in den Schulen, viel zu wenig kümmere man sich um die Bedürfnisse der jungen Menschen, die nun seit über zwei Jahren in Angst und Unsicherheit aufwachsen. „Diesen Kindern Verständnis, Zuversicht und Stärke zu geben, das wäre die wichtigste Aufgabe für das Schuljahr 2022/23“, ruft Moser auf.
Vielen Pädagog*innen seien mit diesen Erwartungen überfordert. Außerdem würden dafür auch die notwendigen Mittel fehlen. „Es ist klar, dass es unbedingt Unterstützung für das Lehrpersonal braucht, damit sie diese Weiterentwicklung aktiv mitgestalten können“, so Moser.
Noch viele Unklarheiten bei Beschulung ukrainische Kinder
Mit der Integration der geflüchteten Kinder aus der Ukraine sind die Lehrkräfte mit der nächsten Herausforderung konfrontiert. „Die Kinder aus der Ukraine haben das Recht und die Pflicht, in Österreich in die Schule zu gehen“, betont Moser. „Damit eine Integration gut gelingen kann, braucht es eine Vorbereitung der betroffenen Schulen und auch entsprechende Informationen an die Eltern.“ Viele Eltern scheinen immer noch auf eine baldige Rückkehr in die Heimat zu hoffen und möchten daher ihre Kinder mittels Online-Unterricht im ukrainischen Schulsystem halten. Für Pflichtschulkinder sei dies aber rechtlich nicht zulässig und für ihre Bedürfnisse nicht geeignet, da neben den Lehrinhalten auch die sozialen Kontakte und das Leben in einer Gemeinschaft eine wichtige Rolle spielen. „Jetzt im Sommer ist es wichtig, frühzeitig mit den Eltern in Kontakt zu treten und die Situation für die Kinder zu klären“, sagt Moser. „Ich möchte alle Bildungsverantwortlichen aufrufen, die Zeit bis zum Schulstart zu nutzen, um in den Schulen für alle Kinder, egal ob durch Pandemie oder Krieg schwer belastet, einen sicheren und unterstützenden Ort des Lernens und des Miteinanders zu schaffen.“