Corona in Peru

Häusliche Gewalt steigt durch enorme Belastung der Familien.

Schulen bleiben das ganze Jahr geschlossen.

Fast 80 Prozent ohne Erwerbseinkommen.

Was ist los mit Cherelle?

Merima aus Cajamarca ist eine aufmerksame Lehrerin. Sie kennt nicht nur die Noten der Kinder und die Namen der Eltern, sie weiß auch wo und wie ihre Schülerinnen und Schüler aufwachsen. Deshalb hat sie sofort bemerkt, dass die achtjährige Cherelle in letzter Zeit ruhiger geworden ist, sich immer mehr zurückzieht und ihren Heimweg so lange wie nur möglich hinauszögert. Wenn die anderen Kinder beim Ertönen der Schulglocke aus dem Klassenzimmer stürmen, bleibt sie sitzen, räumt bedächtig auf und lässt sich Zeit. Sie will einfach nicht nach Hause. Warum? Merima ging dieser Wesensveränderung von Cherelle auf den Grund, und ihr Verdacht verschärfte sich nach einem Besuch bei Cherelle zuhause.
 

Familie unter Druck

Ihr Vater war seit kurzem arbeitslos. Die schon vorher schwierige familiäre Situation hat sich dadurch weiter verschärft. Auch wenn sich beide Eltern in der angespannten Situation bemühen, ihren Kindern ein liebevolles Zuhause zu ermöglichen, eskalieren Streitigkeiten häufig. In solchen Ausnahmesituationen hält sich der Vater mit Schlägen nicht zurück und verschwindet für ein paar Tage - was alles noch schlimmer macht. Besonders Cherelle leidet sehr darunter.
 

Oft fällt aufmerksamen Lehrerinnen und Lehrern als erstes auf, wenn sich Kinder verändern. Sie kennen die Unterstützungsmöglichkeiten und melden sich zum Beispiel in einem Sozialzentrum von SOS-Kinderdorf.

Eine Benimm-Schule für Männer

Als Merima das Gespräch mit dem Vater suchte, spürte sie, dass hier noch nicht alles verloren ist. Sie musste ihn nicht mal zur Teilnahme an dem besonderen Angebot von SOS-Kinderdorf überreden: die "Männerschule".

Die Männerschule ist keine richtige Schule. Es ist ein Projekt als integrativer Bestandteil der Familienstärkungsprogramme in Peru. Es legt den Fokus darauf, Männer in ihrer Väterrolle zu stärken und sie aktiv an der Erziehung ihrer Kinder zu beteiligen. Workshops im Rahmen der "Männerschulen" sollen helfen, das Bild der Männer als "Herrscher" über die Familie zu verändern.

 

Väter stärken

Um Gewalt in Familien zu reduzieren und zu verhindern, dass Kinder von ihren Eltern getrennt werden müssen, legt SOS-Kinderdorf einen Fokus darauf, Männer in ihrer Väterrolle zu stärken und sie aktiv an der Erziehung ihrer Kinder zu beteiligen.

"Wir möchten nicht nur die Männer stärken, sondern für eine Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen sorgen, um so die Qualität des Familienlebens zu verbessern", erzählt Teresa Gruber, Peru Expertin bei SOS-Kinderdorf. "Die Eltern lernen in den Workshops ihre Kinder gewaltlos zu erziehen und ihnen ein Vorbild zu sein."

Die Workshops, die mittlerweile fixer Bestandteil an allen Standorten von SOS-Kinderdorf in Peru sind, können durch die Corona-Krise derzeit nicht in gewohnter Form stattfinden. "Doch gerade jetzt wäre es wichtig Familien zu helfen, mit Stress und Ängsten wegen Arbeitslosigkeit oder Heimunterricht umzugehen", sagt Gruber.

Väter mit ihren Kindern bei einem Workshop der "Männerschule".

 Häusliche Gewalt steigt enorm

Peru ist eines der Länder in Lateinamerika, in denen Frauen und Kinder am stärksten von häuslicher Gewalt betroffen sind. Schätzungen zu Folge haben über 70 Prozent aller Buben und Mädchen bereits Gewalt erlebt, in den meisten Fällen durch ihren eigenen Vater. Die Corona-Krise trifft Peru besonders stark. Mit über 300.000 Erkrankten und über 10.000 Toten liegt Peru an fünfter Stelle der am schwersten betroffenen Länder weltweit.


Die Schulen werden das ganze Jahr nicht mehr aufsperren.
Für Familien, die nun viel Zeit zuhause verbringen, fallen wichtige Unterstützungs- und Beratungssysteme weg!

Teresa Gruber
Peru Expertin

Im Mai hatten nach Angaben des Nationalen Statistikamts fast 80 Prozent der Bevölkerung kein Erwerbseinkommen. "Die wirtschaftlichen und psychischen Belastungen für die Familien sind enorm, dadurch steigt leider auch die Gefahr für Kinder und Frauen, häuslicher Gewalt zum Opfer zu fallen noch weiter an", erklärt Gruber.
 

In den Workshops können Männen ihr Bild über Frau und Familie korrigieren.

Beratung und Therapie aus der Ferne

Alleine im Jahr 2019 wurden in Haushalten in Peru über 200.000 Fälle von häuslicher Gewalt registriert. Durch die hohen Belastungen für Familien in der Corona-Krise nehmen die Fälle von häuslicher Gewalt weiter zu.

"Helplines im Land sind in den letzten Monaten regelrecht von Anrufen überflutet worden", sagt Gruber. "Hinzu kommt, dass Gewalt an Kindern und Frauen weniger bemerkt wird, wenn Kinder nicht in die Schule gehen und Frauen sich nicht direkt an Beratungsstellen wenden können." Es brauche unbedingt Unterstützungsmöglichkeiten aus der Ferne für die gesamten Familien.

Die Beraterinnen und Berater von SOS-Kinderdorf, die im Rahmen von Familienstärkungsprogrammen auch mit Unterstützung aus Österreich über 350 Familien betreuen, sind aktuell in ständigem Austausch via Telefon und Videoanrufen. "Die Sozialarbeiterinnen telefonieren mindestens zweimal pro Woche mit den Familien, um ihnen psychosoziale Unterstützung zu bieten," erklärt Gruber. "Für die gefährdetsten Familien wurde auch die Möglichkeit geschaffen, Psychotherapie über Telefon und Videoanrufe zu erhalten." Viele Auswirkungen werde man erst nach Ende der Krise bemerken und dann noch einmal mehr Arbeit in den Kampf gegen häusliche Gewalt stecken müssen.
 

In den Männerschulen werden auch die Frauen eingeladen, wenn es zum Beispiel um Gleichberechtigung geht, im Haushalt und in Erziehungsfragen.

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