Vorarlberg – 23.06.21

Ein stabiles Umfeld und Hilfe für minderjährige Asylwerber

Seit 2016 haben knapp 70 unbegleitete Jugendliche nach ihrer Flucht ein Zuhause bei SOS-Kinderdorf auf ihrem Weg in ein neues Leben gefunden. Soziale Integration und Perspektiven für die Zukunft stehen beim „Betreuten Außenwohnen“ im Vordergrund.

Jahrelanges Warten auf Asylverfahren, kaum Chancen am Arbeitsmarkt, Diskriminierung und Traumatisierungen: junge Flüchtlinge müssen viele Hürden überwinden, um in Österreich Fuß zu fassen.

Seit fünf Jahren finden unbegleitete minderjährige Flüchtlinge bei SOS-Kinderdorf in Vorarlberg ein neues Zuhause, in dem sie willkommen sind und auf ihrem Weg in ein selbstständiges Leben professionell begleitet werden. In mehreren kleinen Wohneinheiten im gesamten Bundesland stehen derzeit 12 Plätze zur Verfügung, die eine individuelle Unterstützung ermöglichen.

„Jugendliche, die ohne ihre Eltern nach Österreich geflüchtet sind, brauchen mehr als nur ein Dach über dem Kopf“, weiß Jacqueline Oberauer, Pädagogische Leiterin bei SOS-Kinderdorf. Sie hat das Angebot in Vorarlberg neu aufgebaut und gemeinsam mit ihrem Team seither knapp 70 minderjährige Flüchtlinge betreut. „Viele Jugendliche, die zu uns kommen, haben traumatische Fluchterfahrungen hinter sich. Sie sind alleine in einem fremden Land und einer fremden Kultur und vermissen ihre Familien. Hinzu kommen langwierige Asylverfahren, Sorgen um die Angehörigen und Verständigungsschwierigkeiten. Wir helfen ihnen, diese belastenden Erlebnisse zu verarbeiten und stehen mit Rat und Tat bei der Alltagsbewältigung zur Seite – dazu zählen hauptsächlich Spracherwerb, Schule, Ausbildung, Behördengänge und das soziale Zusammenleben“, so Oberauer.
 

Keine halben Menschen – Ungleichbehandlung von jungen Flüchtlingen

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge werden nach wie vor benachteiligt im Vergleich zu österreichischen oder einheimischen Jugendlichen. Sie sind finanziell schlechter gestellt und ihre Ausbildungsmöglichkeiten sind stark eingeschränkt, weil sie keine Lehre in Mangelberufen beginnen dürfen, solange sie im Asylverfahren stehen.

Gerd Konklewski, SOS-Kinderdorfleiter in Vorarlberg, teilt die Forderung nach einem gleichen Betreuungszugang für alle Jugendlichen und unterstreicht die Wichtigkeit des Angebots für Vorarlberg: „Es gibt keine halben Menschen, Jugendliche sind Jugendliche. Wir wollen die jungen Flüchtlinge gut betreuen und ihnen ein sicheres Zuhause geben.“ Viele von ihnen hätten zudem schlimme Erlebnisse hinter sich. „Manche Schicksale bewegen mich sehr und es ist beeindruckend, wie positiv und mutig diese jungen Menschen mit ihrer Situation umgehen“, so Konklewski. 

IM PORTRAIT:
Noor (23 Jahre)

"Vorarlberg ist meine zweite Heimat"

Noor, ein ehemaliger Bewohner im Betreuten Außenwohnen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge kam mit 17 Jahren zu SOS-Kinderdorf nach Vorarlberg.

Einer der ersten, der 2016 ins Betreute Außenwohnen von SOS-Kinderdorf einzog, ist der mittlerweile 23-jährige Noor. Er flüchtete mit seiner Familie aus dem Irak und schaffte es nach einer lebensgefährlichen Odyssee über das Mittelmeer alleine nach Österreich.

„Als ich in Vorarlberg angekommen bin, habe ich kein Wort Deutsch gesprochen, alles war mir fremd. Aber ich habe immer gewusst, meine Zukunft wird hier sein“, sagt der junge Mann, der über zwei Jahre bei SOS-Kinderdorf gelebt hat und so viel positive Lebensenergie ausstrahlt, dass es ansteckend wirkt. Mithilfe seiner Betreuerin Sabine Flatz hat Noor gegen den negativen Asylbescheid Beschwerde eingelegt, eine Lehre als Maurer begonnen, die Schule abgeschlossen und perfekt Deutsch gelernt – sogar den Vorarlberger Dialekt beherrscht er mittlerweile einwandfrei.

Noors Asylverfahren hat sich hingezogen, dreieinhalb zermürbende Jahre musste er auf die zweite und schließlich erfolgreiche Anhörung warten: „Ich bin jeden Tag zur Post und habe auf die Einladung zum Interview gewartet. Die Ungewissheit ist das Schlimmste, du weißt nicht, was in der Zukunft passiert.“

Mittlerweile wohnt er in Feldkirch, Vorarlberg ist seine zweite Heimat, wie er sagt. Nirgendwo anders möchte er leben, nur auf das Wetter sei hier kein Verlass.

Die Ausbildung hat der passionierte Fußballer abgeschlossen, im Herbst beginnt er eine Wunschlehre als Prozesstechniker bei Blum. „Es gab viele Leute, die für mich da waren“, betont Noor: „Meine Mitschüler oder Lehrer, die mir am Wochenende Nachhilfe gegeben haben, und Sabine, die wie eine große Schwester für mich ist.“ Aber auch sein Fußballtrainer und sein Chef haben sich immer für ihn eingesetzt.

Seine Eltern und die fünf Geschwister leben in der Türkei. Zu ihnen hält er engen Kontakt. „Familie ist das Wichtigste im Leben! Als ich fünf Jahre nach meiner Flucht zum ersten Mal meine Familie wiedergesehen habe, war ich einen Tag nur am Weinen vor lauter Glück.“

Seine Wünsche für die Zukunft? „Ich will mit meiner Freundin zusammenziehen und bald eine eigene Familie gründen. Und, dass Corona vorbei ist.“

 

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