Interview – 09.12.20

Jugendliche brauchen mehr Verständnis und Toleranz

Unsere Kollegin Christina Seeland berichtet aus ihrer Erfahrung im Betreuten Wohnen: Strenge Corona-Beschränkungen sind ungesund für die Entwicklung von Jugendlichen.

Die Corona-Beschränkungen haben immer gravierendere Auswirkungen auf Jugendliche. Christina Seeland ist ausgebildete Sozialpädagogin und Bildungswissenschaftlerin und bei SOS-Kinderdorf Wien als pädagogische Leiterin für 30 Jugendliche verantwortlich, die im Rahmen des Betreuten Wohnen in eigenen kleinen Wohnungen von SozialpädagogInnen betreut und in die Selbstständigkeit begleitet werden. Sie erzählt, was Jugendliche zurzeit durch die strengen Corona-Beschränkungen belastet und was diese jungen Menschen im Moment brauchen.

 

Was bedeuten die strengen Corona Beschränkungen für Jugendliche?
Jugendliche brauchen es für sich und ihre Entwicklung unbedingt, sich ausprobieren und ausleben zu können, mit Freunden zu feiern, auf Reisen zu gehen, neue Kontakte zu knüpfen und auch einmal unvernünftig zu sein. Im Moment steht all das still. Diese Zeit kommt für die Jugendlichen nicht mehr zurück. Ich erlebe viele Jugendliche in der Corona-Zeit als sehr brav und sehr bemüht sich an die Beschränkungen zu halten. Sie halten sehr viel aus und leisten einen wichtigen Beitrag. Wir müssen damit rechnen, dass die Auswirkungen dieser Einschränkungen und Belastungen erst in ein paar Jahren auf uns zurückkommen. Auf uns als gesamte Gesellschaft. Denn in Wirklichkeit braucht die gesamte Gesellschaft eine Jugend, die ihren Bedürfnissen nachkommen kann, um sich zu entwickeln und zu sich selbst zu finden.

Die Jugendlichen im Betreuten Wohnen von SOS-Kinderdorf leben ja ganz alleine, wie wirkt sich das für sie aus?
Wenn man alleine lebt und auch nicht für die Schule oder Ausbildung aus dem Haus kommt, weil man im Distance-learning ist, wird man schnell einsam. Es ist eine wichtige Erleichterung im Vergleich zum ersten Lockdown, dass klargestellt ist, dass man seine Partnerin oder seinen Partner treffen darf.
Bei uns im Team merken wir, dass der Bedarf an Betreuung und Austausch mit den Jugendlichen gestiegen ist. Die Jugendlichen haben ein großes Bedürfnis nach intensivem Austausch, Zuspruch und Verbundenheit mit ihren Betreuerinnen und Betreuern. Neben persönlichen Treffen sind sie auch intensiv über Telefon und Messanger-Apps in Kontakt. Es gibt viele Zukunftsängste und Verunsicherung. Das merken wir auch dadurch, dass sich viele junge Erwachsene, die aus unseren Einrichtungen schon ausgezogen sind, aktuell wieder verstärkt bei uns melden.

Was brauchen Jugendliche in der aktuellen Situation?
Ich wünsche mir für die Jugendlichen mehr wohlwollenden und liebevollen Beistand und Toleranz für ihre Bedürfnisse. Es scheint ganz selbstverständlich zu sein, dass Jugendliche ihre Bedürfnisse zurückstecken müssen und das alles aushalten müssen. Meiner Meinung nach wird es zu wenig wertgeschätzt, was die Jugendlichen tatsächlich leisten, indem sie all diese Einschränkungen ertragen.

Merken Sie für die Jugendlichen auch schon negative Auswirkungen am Arbeitsmarkt?
Die Suche nach Lehrstellen war in diesem Jahr für unsere Jugendlichen definitiv schwieriger als in anderen Jahren. Es hat sehr viel Engagement und Unterstützung von den Betreuerinnen und Betreuern gebraucht. Wir haben das Glück, dass wir sehr geübt sind, Ausbildungsplätze für Jugendliche zu finden. In diesem Jahr hat es besonders viel Fürsprache der Betreuerinnen und Betreuer bei den Arbeitgebern gebraucht. Das hat sich ausgezahlt, denn es befinden sich aktuell fast alle in einer Ausbildung.