Tag der Familie – 12.05.21

Viele Kinder und Familien an ihren Belastungsgrenzen

Unser Kollege Christian Murer von der Ambulanten Familienarbeit in Tirol berichtet von seiner Arbeit im Corona-Jahr.

"Die Corona-Krise wirkte wie ein Brandbeschleuniger für die Probleme vieler Eltern, den Erziehungsalltag mit ihren Kindern trotz aller Bemühungen alleine noch bewältigen zu können", so beschreibt Christian Murer von der Ambulanten Familienarbeit (AFA) Tirol des SOS-Kinderdorfes die Entwicklungen und Erfahrungen seit Beginn der Corona Krise im März 2020. Murer arbeitet seit knapp sechs Jahren für die AFA Tirol und sagt, die Arbeit sei herausfordernd, oft belastend, aber auch erfüllend und die Freude über kleine und große Erfolge immer wieder motivierend.

Die letzten eineinhalb Jahre waren durch die Auswirkungen von Corona besonders intensiv und für ganz viele Menschen schwierig. Familien, die schon vorher in Krisen steckten, waren doppelt betroffen und in ihrer Existenz als Familie gefährdet. Christian Murer hat in der Zeit im Auftrag der Kinder und Jugendhilfe 10 Familien betreut. Sein Fazit: "Es gab viele schöne und positive Momente, wenn ich etwa bedrohliche Situationen deeskalieren konnte und wir gemeinsam Probleme gelöst und neue Wege des Miteinander gefunden haben. Oder wenn Kinder und Eltern im Lockdown sogar näher zusammengerückt sind!"

Freilich blickt Murer auch auf andere Erfahrungen zurück: "Ein Phänomen, dem viel zu wenig Beachtung geschenkt wird, sind übergewichtige Kinder. Durch den Lockdown noch verstärkt ("Wir müssen drinnen bleiben") haben viele massiv zugenommen. Jene, die sich schon vorher wenig bewegt haben, waren nun ohne Vereinssport, ohne Freizeitaktivitäten im Freien völlig inaktiv", so Murer. Hand in Hand damit sei der Medienkonsum förmlich explodiert. "Kids und Jugendliche waren Tag und Nacht online. Hier gewisse Regeln und Grenzen zu finden, war kaum möglich, das Thema hatte enormes Konfliktpotenzial. Die Folge war noch mehr Aggression gegenüber den Eltern, was die Problemspirale weiter nach oben drehte!"

 

Homeschooling als Herausforderung

Eine große Herausforderung für einige der Familien war die Schule. "Manchmal fehlte die technische Ausrüstung für Home-Schooling und Distance Learning, etwa ein eigenes Notebook oder es war kein Drucker vorhanden", so Murer. "Oft lag der wahre Grund jedoch woanders", so Murer weiter. "Einige Kids haben ohne den Druck des Präsenzunterrichtes Schule einfach verweigert. Lehrpersonen waren rat- und hilflos und haben uns um Hilfe gebeten, sprachen von "verloren gegangenen Kindern!"

Einige dagegen haben von dieser Art des Lernens sogar profitiert. Kinder/jugendliche mit Angststörungen und ähnlichen psychischen Problemen haben bemerkenswerte Fortschritte gemacht, allerdings um den Preis sozialer Vereinsamung, da sie nur mehr mit sich und ihrem Notebook sowie dem Lehrstoff waren.

 

Viele Anfragen der Kinder- und Jugendhilfe 

Insgesamt sei die Zahl der Anfragen durch die Kinder- und Jugendhilfe im Vergleich zu 2019 vor Corona stark angestiegen. „Leider mussten wir auch viele Betreuungsanfragen absagen“, so Murer und ergänzt: "Aus meiner Perspektive der Praxis als Familienberater bräuchte es und wünschte ich mir mehr Ressourcen für diese besonders belasteten Kinder, Jugendlichen und Familien: mehr Personal und damit mehr Zeit für eine intensive Begleitung. Mehr SozialarbeiterInnen in der Kinder- und Jugendhilfe, die ebenfalls an ihre Belastungsgrenzen kommen. Und für die Kids/Jugendlichen selbst im Sinne der Prävention mehr niederschwellige Anlaufstellen, regelmäßig geöffnete Jugendzentren und offene Jugendarbeit!"

 

Ambulante Familienarbeit Tirol (AFA)

Die AFA Tirol von SOS-Kinderdorf unterstützt und begleitet seit mehr als 15 Jahren Kinder, Jugendliche und Familien in besonders schwierigen Lebenslagen. Den Auftrag für diese "Maßnahme der Unterstützung der Erziehung" erteilt die Kinder- und Jugendhilfe des Landes Tirol. Rund 30 AFA-Mitarbeiterinnen sind dafür von ihren sechs AFA Büros in Landeck, Reutte, Innsbruck, Schwaz, Kirchbichl, Lienz in ganz Tirol unterwegs und betreuen pro Jahr bis zu 500 Kinder und Jugendliche inkl. ihrer Eltern aus 150 bis 200 Familien.

Die Gründe dafür sind so vielfältig und unterschiedlich, wie jede Familie einzigartig ist: Konflikte nach Trennungen/Scheidungen, psychische Erkrankungen, Arbeitslosigkeit, finanzielle Nöte, Schulprobleme, Überforderung in Erziehungsfragen und vieles mehr. Und es kann jeden treffen: Familien, denen das Geld zum Heizen und nötigsten Einkauf fehlt, genauso wie begüterte Familien, denen es materiell gut geht.

So wie keine Familie und keine Problemsituation vergleichbar ist, gibt es auch keine Patentrezepte. Es geht immer darum, gemeinsam individuelle Lösungen zu erarbeiten, neue Wege zu finden, um miteinander als Familie Schwierigkeiten zu meistern. Ziel ist es, die Lage so zu stabilisieren, dass Eltern ihre Aufgabe wieder selbst wahrnehmen können. Eines bleibt dabei immer klar: Im Mittelpunkt steht das Kindeswohl.